Inventing Anna – oder auch: Warum die Macht von Outfits niemals unterschätzt werden darf

16. Februar 2022 von in ,

Foto: Netflix 

„Was tragen Sie?“ Die Reporterin schaut irritiert an sich herunter. „Ehm, eine Bluse, eine..“ Anna Sorokin schüttelt den Kopf. „Nein, ich meine, was tragen Sie da? Sie sehen ärmlich aus!“ Nicht nur der Reporterin rutscht in diesem Moment die Kinnlade runter, auch mir, die vor dem Fernseher sitzt, ist über so viel Offenheit schockiert. „So werden Sie nie ein Teil der High Society“, sagt Anna Sorokin, alias Anna Delvey, und damit ist eigentlich auch schon alles gesagt. Um drin zu sein, musst du reich aussehen. Kleidung ist hier die erste Wahl.

„Inventing Anna“ ist die neue Netflix-Serie von Shonda Rimes, die die wahre Geschichte der deutschen Anna Sorokin erzählt. Es ist eine Geschichte der Täuschung, von Glamour und Geld und vor allem auch darüber, wie Kleidung, ganze Looks bestimmen, wer du bist. Anna Sorokin kommt irgendwann 2012 nach New York, sie heißt nicht mehr Sorokin, sondern Delvey. Sie ist nicht mehr eine normale deutsche Studentin, sondern Erbin einer Dynastie. Sie hat Geld, sie hat Macht. Gucci, Prada und andere Designer sind ihre Eintrittskarte in die Welt der Reichen. Sie schmeißt mit Geld um sich und führt die High Society an der Nase herum. Bis ihr Scam 2017 aufflliegt – und sie irgendwann ins Gefängnis. Wo sie der Reporterin Jessica Dressler ihre Geschichte erzählt. Vom Sein und Schein.

Wenn man Anna Delveys oder auch Anna Sorokins Geschichte betrachtet, muss man unweigerlich auch die Kleidung, ihre komplette Außendarstellung miteinbeziehen. Denn ohne ihre Looks wäre ihre Betrugsmasche nie so weit gekommen. Wann immer wir Kleidung tragen, sie bewusst auswählen, schaffen wir uns eine Identität. Und Anna Delvey hat dies perfektioniert. Niemand in ihrem wohlhabenden Umfeld hat ihre Herkunft angezweifelt. Selbst dann nicht, als ihre Kreditkarten abgewiesen wurden, als sie sich Geld leihen musste, weil der Vater gerade nicht Geld rüberwachsen lassen wollte, als sie die Flugtickets nicht bezahlen konnte. Niemand hat sie angezweifelt, denn sie sah doch reich aus. Sie sah aus, wie eine von ihnen.

Niemand hat sie angezweifelt, denn sie sah doch reich aus. Sie sah aus, wie eine von ihnen.

Natürlich kann man hier sagen: Entschuldigung mal, warum müssen wir hier überhaupt über Arm und Reich in Bezug auf Kleidung sprechen? Richtig. Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber blickt man genau drauf – und das habe ich in meiner Magisterarbeit zum Thema „Theatralität – Identität – Mode“ ausgiebig getan -, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass gerade Mode ein beliebtes Mittel ist, um sich von Gruppierungen abzugrenzen. War es im 13. Jahrhundert der Adlige, der die schönsten Stoffe aus fernen Ländern trug, um sich von der einfachen Gesellschaft abzuheben, bleibt es heute bei Brands, guten Schnitten und gelebtem Reichtum im Understatement – in dem der Anzug unscheinbar wirkt, beim Ausziehen aber das Etikett von Tom Ford herausblitzt.

„Mode ist eines der bedeutendsten Mittel dafür, wie Menschen sich selbst als Raumkörper konstituieren und sich als Körper im Raum situieren“, sagt Modetheoretikerin Getrud Lehnert. Heißt im Umkehrschluss: Wann immer wir etwas tragen, senden wir eine Botschaft an das Außen. Zeigen, wie wir gesehen, erkannt und gelesen werden wollen. Wann immer wir Mode tragen, einen Look kreiieren, wirken wir. Wir senden eine nonverbale Botschaft, die im besten Fall von anderen modischen Individuen gelesen wird. Im Fall von Anna Delvey bedeutet das: Indem sie teure Mode trug, mit Designermarken nur um sich warf, wurde sie von der High Society in deren Augen richtig gelesen. Sie wurde erkannt – als reiche Erbin. Ihre verbale Botschaft, ihre Worte nach dem Auftritt, waren wichtig, konnten dennoch nur funktionieren, weil ihr äußeres Erscheinungsbild dem Bild der reichen Erbin entsprach.

Wer Mode trägt, inszeniert sich. Schlüpft in eine Rolle, die das Umfeld erwartet.

Runtergebrochen bedeutet das: Wer Mode trägt, inszeniert sich. Schlüpft in eine Rolle, die das Umfeld erwartet. Outfits und Kleidung sind mehr als nur Outfits und Kleidung. Sie geben uns sozialen Status, sie machen uns zum Teil eine Gruppierung und lassen uns in Rollen schlüpfen, die nicht unbedingt der Wahrheit, dem realen Leben entsprechen müssen. Letzteres steht dann nicht mehr die Inszenierung im alltäglichen Leben im Fokus, in der wir uns zeigen wollen, wer wir sind, sondern viel mehr die Identitätserschaffung, wie wir sie von Theaterbühnen kennen.

Mode kann uns positionieren innerhalb einer Gruppierung oder der Gesellschaft, sie kann uns eine Identität schaffen. Und sie kann manipulieren. Wie mächtig Mode ist und auf uns wirkt, zeigt sich dann, wenn wir Menschen mehr als nur einen sozialen Status über ihren Look zuordnen. Menschen, die Kleidung tragen, die wir auch mögen, empfinden wir laut Studien als sympathisch. Eine Studie von Keith Gibbins und Jeffrey Coney aus dem Jahr 1981 zeigt beispielsweise auf, dass Trägerinnen von langen Röcken als intellektueller angesehen wurden, als Trägerinnen von kurzen Röcken. Diesen wiederum wurden Charakteristika wie jugendlich und extrovertiert zugeschrieben. Eine spannende Betrachtung, die heute im Jahr 2022 sicherlich andere Charakteristika je nach Generation hervorrufen würde, und dennoch belegt: Kleidung ist mehr als nur die Bedeckung unseres Körpers.

Mode kann uns positionieren innerhalb einer Gruppierung oder der Gesellschaft, sie kann uns eine Identität schaffen.

Und was hat das alles nun mit Inventing Anna zu tun? In der Lebensgeschichte von Anna Sorokin war Kleidung „part of the scam“, wie auch die Kostümdesigner der Netflix-Serie von Shonda Rimes betonen. Anna Sorkin hat sich erfunden als Anna Delvey, mit und dank Kleidung, die teuer genug war, dass sie in der High Society New Yorks Fuß fassen konnte, die aber auch keine Fragen aufwarf. Sie hat die richtige Botschaft gesendet.

Immer dann, wenn Menschen sagen, „Mir ist Mode egal, ich trage einfach irgendwas“, suchen sie sich dennoch eine Identität aus. Denn jeder Träger und jede Trägerin von Kleidung schickt eine nonverbale Botschaft, die je nach Gruppierung gelesen wird. Niemand von uns kann sich der Macht von Mode entziehen. Und das macht das Thema Mode für mich so spannend. Mode ist mehr als nur das oberflächliche Spiel mit den schönen Dingen dieser Welt. Wir kommunizieren mit ihr, wir positionieren uns mit ihr und wir senden Nachrichten. Wir alle schlüpfen in eine Rolle, sobald wir uns morgens vor dem Kleiderschrank entscheiden, was wir anziehen. Mode ist ein Ventil, uns auszudrücken. Sie kann Maskerade sein oder Vulnerabilität darstellen, sie zeigt uns glücklich, traurig oder auch auf neuen Wegen. Sie kann Schutzschild sein, Sprungbrett und Integration. Vor allem aber ist sie Teil des eigenen Identitätsverständnisses. Wir alle schlüpfen in Rollen – ganz wie Anna Delvey. Im besten Fall bleiben wir dabei aber nah dran an unserer eigenen Geschichte.

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