„Wenn eine Frau sagt, sie wurde vergewaltigt, glaubt ihr.“ – Ein Opfer erzählt

5. Mai 2022 von in

Fast jede siebte Frau in Deutschland erfährt sexuelle Gewalt. Laut Terre des Femmes haben sogar 13 % aller Frauen in Deutschland ab ihrem 16. Lebensjahr strafrelevante sexuelle Gewalt erfahren. In anderen Worten: Sie wurden vergewaltigt oder sexuell genötigt. Heißt: Fast jede*r von uns müsste eigentlich mindestens eine Frau kennen, der sexuelle Gewalt widerfahren ist. Aber ich selbst kenne nur wenige, die offen über ihre Traumata sprechen.

Das Problem ist: Nur fünf Prozent aller Vergewaltigungen werden angezeigt. Zu groß ist die Scham der Frauen, die Angst, dem Täter nochmal ins Gesicht zu sehen oder der Lüge bezichtigt zu werden. Viele Frauen scheuen die Anzeige. Sie haben Angst vor stundenlangen Aussagen, sie fühlen sich mitschuldig und sie wissen nicht, ob man ihnen wirklich Glauben schenken wird. Direkt nach der Tat zum Arzt zu gehen und danach mit einer Polizistin zu sprechen, ist eine weitere Hürde. Lieber alleine mit der Scham irgendwie (über-)leben.

 Bei 100 angezeigten Vergewaltigungen in Deutschland
kommen nur 13 auf ein Urteil.

Der Rest der Anzeigen wird aufgrund von Mangel an Beweisen fallengelassen oder endet in einem Vergleich. Laut Terre des Femmes entspricht dies einer Verurteilungsquote von 13%, die im gesamteuropäischen Bild unterdurchschnittlich ist.

Also müssen wir reden. Darüber, wie schrecklich sexuelle Gewalt ist. Dass sie öfter passiert, als wir denken. Dass ein Nein ein Nein ist – und die Frau niemals schuld hat. Und: Dass die Gefahr nicht hauptsächlich vom Monster im Gebüsch im dunklen Park ausgeht, sondern im eigenen Umfeld lauert.  Stichwort: Beziehungstaten. Auch jetzt, in Zeiten von Corona, fürchten ExpertInnen einen Anstieg von sexueller Gewalt im häuslichen Bereich.

Opfer sexueller Gewalt brauchen eine Stimme. Weil sie selbst oft schweigen, ist ihre Lobby klein. Bis heute hält sich der Irrglaube, dass es ja „auch sehr viele falsche Beschuldigungen“ gebe. Terre des Femmes hat hierzu recherchiert: „Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung beträchtlich ist, liegt der Anteil bei nur 3 Prozent.“

Auch Katie Aenderson sagt: „Glaubt Frauen, wenn sie sagen, ihnen ist sexuelle Gewalt widerfahren.“ Die 25-Jährige weiß, wovon sie spricht. Sie selbst ist Opfer einer Vergewaltigung geworden. Heute arbeitet sie als Projektmanagerin in Berlin und studiert nebenbei. Erst seit Kurzem spricht sie offen auf ihrem Instagram-Account über ihre Erfahrungen, um anderen Opfern Mut zu machen. Wir haben mit ihr, über die schreckliche Tat vor sieben Jahren und wie sie überlebt hat, gesprochen.

Du schreibst auf Instagram und redest ganz offen über einen sexuellen Missbrauch, der dir widerfahren ist. Was ist dir genau passiert?

Als ich 18 Jahre alt war, wurde ich von einem Arbeitskollegen vergewaltigt, während seine zwei besten Freunde vor der Tür standen und gewartet haben, bis es vorbei ist. Trotz jahrelanger Therapieversuche, mit unterschiedlichen Therapeuten, habe ich mich nie in der Lage gefühlt, darüber zu sprechen. Bis heute.

Du kanntest also den Täter?

Ja, wir haben zusammen gearbeitet. Er war noch relativ neu bei uns, ich war schon länger dort.

Wie ging es dir direkt nach der schrecklichen Tat?

Ich habe nicht verstanden, was gerade passiert ist. Ich war fassungslos und irgendwie in einem gewissen Überlebensmodus, da ich relativ stark verletzt worden bin.

Hast du dich wem anvertraut?

Nach einigen Tagen habe ich mit meiner besten Freundin gesprochen, aber meine Eltern wissen bis heute nichts davon.

Wie waren die Wochen, Monate danach?

Überfordernd hauptsächlich. Ich konnte meine Gefühle nicht einordnen, war sauer auf mich selbst. Habe mir Vorwürfe gemacht, mich selbst zu Situationen gezwungen, in denen ich mich nicht wohlgefühlt habe.
Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, was da eigentlich passiert ist und was dies mit mir gemacht hat. Es dauert bis heute, dass ich lerne, mich zu akzeptieren und mich selbst über alles andere zu stellen.

 

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Du bist damals nicht zur Polizei gegangen – warum?

Ich habe am Tag nach der Vergewaltigung meine Verletzungen dokumentiert, Fotos gemacht, Ich war fest entschlossen ihn anzeigen zu wollen. Als ich dann bei der Polizei war und der Beamte mich fragte, ob ich irgendwelche Beweise hätte, wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich bis auf meine Wunden (körperlich sowie geistig) nichts hatte, um zu beweisen, was passiert war. Mein Arbeitskollege hatte mich zu sich eingeladen, es sollten mehrere ArbeitskollegInnen kommen. Am Ende waren wir nur zu viert. Die beiden besten Freunde des Täters waren während der Tat im Raum nebenan und haben danach auf mich eingeredet, dass das alles consensual härterer Sex gewesen sei. Wäre es also zu einem Prozess gekommen, wären es die drei gegen mich gewesen. Im Zweifel immer für den Angeklagten. Ich wusste, ich würde die ganze Geschichte hundertmal erzählen müssen und am Ende als Lügnerin dastehen. Deswegen habe ich ihn nie angezeigt. Ich musste hier auf meine seelische Gesundheit achten. Und der hätte es geschadet, angezweifelt zu werden.

Was hat die Tat mit dir gemacht und macht sie heute noch mit dir?

Aufgrund dieses Erlebnisses habe ich heute eine posttraumatische Belastungsstörung.
Es gibt Situationen, mit denen ich bis heute nicht umgehen kann. Trigger, die mich völlig aus der Bahn werfen.
Menschenmassen zum Beispiel, weil ich mich da umzingelt fühle und nicht entkommen kann, enge Räume, oder auch Kontrollverlust. Ich trinke keinen Alkohol und nehme keine Drogen.
Ich begebe mich nicht mehr in Situationen, in denen ich mich nicht 100% wohl fühle. Außerdem habe ich Schlafprobleme und Albträume und große Probleme, Fremden zu vertrauen.

 

 

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Du nennst dich heute selbst Survivor – wie hast du überlebt?

Um ehrlich zu sein, weiß ich das selbst nicht so genau.
Ich glaube ich habe einen ziemlich starken Willen, der mich dadurch gebracht hat.

Wie ist heute dein Verhältnis zu Männern?

Schwierig. In aller Regel erstmal angespannt. Das ist etwas, das ich bis heute nicht ganz verarbeitet habe. Nach dieser Nacht habe ich weiterhin Männer gedated, circa 3 Jahre lang. Ich habe es immer wieder probiert. Musste mir von vielen Männern anhören, dass ich eine „Aufgabe“ sei und ganz und gar nicht das offene, coole Mädchen, das sie suchen. Nun date ich seit vier Jahren Frauen und fühle mich besser. Entlastet irgendwie.

Wenn eine Frau sagt, sie wurde missbraucht, glaubt ihr.
Sie hat keinen Grund zu lügen.

Du redest seit Kurzem ganz offen über deine Geschichte – wie kam es dazu?

Ich habe viele Therapieversuche hinter mir, mit unterschiedlichen Therapeuten und unterschiedlichen Herangehensweisen. Aber nie war es mir möglich, offen zu sprechen. Meine letzte Therapeutin wollte unbedingt, dass ich weine, sie war fast enttäuscht, dass ich so gefühllos darüber spreche. Mir aber hat es geholfen, mir vorzustellen, ich wäre nicht die Person, der das passiert ist. Erst als ich vor ein paar Wochen von der Seite letsbreaktheshame gefragt wurde, ob ich etwas über mein Trauma sagen möchte, habe ich mich getraut. Als mein Post auf ihrem Profil online ging, bekam ich unheimlich viel Feedback von Frauen, denen Ähnliches passiert ist. Und da fiel mir auf, dass kaum jemand darüber spricht, aber es uns allen hilft, zu reden.

Welche Reaktionen erlebst du?

Hauptsächlich positive. Ich werde ermutigt, bekomme viel Liebe und Verständnis. Was mich besonders froh macht, sind die Zuschriften von Menschen, denen Ähnliches passiert ist. Diesen Menschen möchte ich gern ein offenes Ohr bieten.

Was würdest du jungen Frauen raten, denen ähnliches widerfahren ist?

Sprecht darüber. Mit wem auch immer. Und denkt niemals, dass ihr schuld seid. Ihr seid nicht schuld. Nie.

Was hat dir am meisten geholfen?

Die vielen Menschen, die zuhören.

Was wünscht du dir für unsere Gesellschaft? Vielleicht auch von Männern?

Mehr Rücksicht. Nicht nur ein „Nein“ heißt Nein. Alles was nicht Ja ist, muss respektiert werden. Zu jeder Zeit. Missbrauch fängt da an, wo Consent aufhört. Das beginnt beim hinterherpfeifen und unaufgefordert Bilder schicken. Und wenn eine Frau sagt, sie wurde missbraucht, glaubt ihr. Sie hat keinen Grund zu lügen.

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7 Antworten zu “„Wenn eine Frau sagt, sie wurde vergewaltigt, glaubt ihr.“ – Ein Opfer erzählt”

    • Die Aussage „Sie hat keinen Grund zu lügen“ geht vollkommen an der Realität vorbei. Es wird geschätzt das ca 30 % aller Fälle sich später als Falschbeschuldigungen herausstellten. Es gibt auch genügend dokumentierte Fälle (z.b. A. Türk, Karl Dall usw.)

      • Das wiederum stimmt nicht, liebe Aynur. Die Fälle rund um Dall & Co. befeuern dieses Gerücht nur, in Wahrheit sind falsche Beschuldigungen nicht die Regel. „Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung beträchtlich ist, liegt der Anteil bei nur 3 Prozent.“ („Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe.” Jo Lovett & Liz Kelly (2009)).

        Mehr kannst du hierzu lesen: https://www.amazedmag.de/warum-wir-endlich-anfangen-muessen-betroffenen-zuzuhoeren/

        Und dann noch die dringliche Frage: Warum glaubt man dem Täter eher, der sagt „ich wars nicht“, als dem Opfer „ich wurde vergewaltigt?“ Beide können die Wahrheit – oder eben die Unwahrheit sprechen.
        Liebe Grüße!

  1. Danke für deinen Artikel.
    Leider sieht die Realität so aus, dass dir nichts anderes übrigblieb, als die wichtige Erfahrung „mir wird geglaubt“ rein privat zu machen. Du hast dich vor zusätzlich belastender Anzeige/ Gerichtsverfahren geschützt, indem du lieber geschwiegen hast. Ich als Betroffene sage – gut so. Denn es hätte dich erneut traumatisiert und es ist so wichtig zu heilen. Das fatale ist „wir“ Betroffene haben nur diese Chance uns ins private zurückzuziehen. Alles andere wäre psychischer Selbstmord (wenn die Tat nicht beweisbar ist). Es bleibt die Fragr: Wer ändert die Verfahren? Wer kämpft für uns?

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