Intellectualization of Emotions: Schluss mit Gefühlsrhetorik, lasst mal mehr zu!

30. Oktober 2023 von in ,

Als ich letztens meine ForYou-Page auf TikTok durchgescrollt habe, bin ich bei einem Video hängengeblieben: Intellectualization of Emotions. Es ist mittlerweile nichts Neues, dass (selbsternannte) Coaches und „Scientists auf der Plattform Tipps rund um das Thema Wellbeing oder Dating geben. Nicht ohne Grund bekommen viele der heutigen Trends hier einen Namen sowie eine konkretere Ausrichtung. Aber zurück zu dem Video, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Hier bespricht eine Frau das Thema „Intellectualization of Emotions“, etwas, dass mich seitdem nicht mehr loslässt.

@thisisnefertiti Reply to @waymegapolestuff What it means to intellectualize emotions! #overthinking #defensemechanisms #traumaresponse #mentalhealth #fyp ♬ LoFi(863235) – skollbeats

Paraphrasiert, verpackt und umgelenkt

Denn auch in meinem Alltag beobachte ich das Phänomen, wie Menschen ihre Gemütszustände paraphrasieren und in Floskeln verpacken. Mit der unvermeidbaren Tendenz, sie von großen chaotischen Gebilden in kleine verträgliche Portionen zu zerlegen. Zur eigenen Verständlichkeit, aber auch, um sie geschickter auslagern zu können. Entweder, um sie zielgerichtet in etwas anderes zu verwandeln oder aufzuschieben. Weil wann hat man schon Zeit, sich davon aus der Bahn werfen zu lassen? Eigentlich nie so wirklich. Also vergessen wir das Ganze einfach, ja? So wichtig war es dann doch nicht. Eher mehr ein schwacher Moment des zu viel Fühlens. Mit der Folge eines Beinahe-Kontrollverlusts. Das rede auch ich oft genug meinem Kopf und dem Herz ein. Während die beide fast schon mechanisch nicken und auf Hochtouren daran arbeiten, wieder zum Laufen zu kommen. Den Fokus dahin zu setzen, was als größtmögliche Ablenkung funktionieren kann.

Der Verstand und seine geliebte Routine

Auch ich kann das gut – dieses Blockieren. Ich bin aufgewühlt. Ich rufe meine besten Freund:innen an. Wir reden darüber. Versuchen den Grund auszumachen, meinen Gefühlszustand erklärbar zu machen, mit einer Steilvorlage, ihn danach entweder vergessen zu können oder als Antrieb für das nächste Projekt zu nutzen. Und während ich das schreibe, muss ich mich stark daran zurückerinnern, als ich den damals schlimmsten Heartbreak meines Lebens zu haben glaubte. Mich zu der Zeit, statt mich meinen Gefühlen mal so richtig hinzugeben, sie lieber unter „Am Laufen bleiben“ begraben habe. Die Produktivität war in dieser Zeit so hoch wie nie. Mit der Motivation, die in dem Moment für mich schier unfassbar überfordernde Varianz an Emotionen nicht zulassen zu wollen. Denn inmitten der Dinge, die ich nicht fassen konnte, war mein einziger Gedanke: Du musst funktionieren! Mein Gehirn hatte ich überzeugt und der Rest wollte ihm nur bereitwillig in das „Normal“ einer ablenkenden Routine folgen.

Intellectualization of Emotions: Das steckt dahinter

Bereits 1936 charakterisierte Anna Freud Intellektualisierung als eine Art Abwehrmechanismus. Die These ist, dass das Beschäftigen mit geistigen Themen ein Ausgleich zu der Auseinandersetzung mit komplexen Gefühlen und Körperempfindungen dienen kann. Besonders in der Zeit der Adoleszenz oder aber auch der grundsätzlichen Überstimulation, die wir tagtäglich erleben (Krieg, Krisen, Klima) und eigentlich gar nicht mehr so richtig einordnen können. Quasi ein innerer Fluchtinstinkt, der fast schon unbemerkt in uns existiert und immer dann greift, wenn wir nicht wissen, wohin mit uns – und wie uns geschieht. Jedoch nicht zu verwechseln mit dem Rationalisieren aka Rechtfertigen. Denn Intellectualication of Emotions meint: Den Fokus verschieben – vom Emotionalen zum Intellektuellen. Dem stimmt auch das Urban Dictionary zu und definiert es als „logisches Denken und Argumentieren blockiert die Emotionen“. Mit Kalkül.

 

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Umbrella Term: Das trügerische All good!

Auch jetzt merke ich, wie ich in Zeiten von chaotischen Gefühlslagen dazu neige, ihnen keinen Raum zu geben. Statt auf ein „Wie geht’s dir?“ mit „Gar nicht gut“ zu antworten, bleibt es beim „All good“. Dem Dauerbrenner für die Momente, in denen ich gern über alles, aber nicht über meinen inneren Zustand reden möchte. Ihn lieber unter allem anderen begraben möchte: All good! Im Englischen gibt es da diesen schönen Begriff „Umbrella Term“, der bildlich das zusammenfasst, was ein „All good“ so gut kann. Als Schirm und somit Oberbegriff schützt es alles, was darunterliegt und fasst eine Komplexität an Dingen einfach zusammen. Kurz und knapp. Ganz gesellschaftstauglich. Und vor allem nicht unbequem für mich und alle anderen – All good, eben! Und das von morgens, mittags bis abends. Solange, bis es das wirklich ist. Aber wie sinnvoll ist das wirklich? Denn allein mit der deutschen Sprache und ihren unterschiedlichen Konnotationen sowie Begrifflichkeiten gibt es ja genug Spielraum, um das in Worte zu fassen, was einem auf der Seele brennt. Doch irgendwas hält mich dann doch immer zurück.

Manchmal …

Denn manchmal habe ich das Gefühl, je älter man wird, desto weniger Gefühle werden einem zugestanden. Der Raum, in dem man sich bewegen kann, ist so limitiert, dass man nur beim Anzeichen von gewissen Emotionen gleich versucht, sie zu umgehen und wegzuschubsen. „Ne, sorry! Ich hab dir doch ganz ausführlich erklärt, warum du nicht hier sein kannst. Das ist ein Missverständnis. Ich habe dich nicht bestellt“.
Manchmal habe ich aber auch das ohnmächtige Gefühl, mich einfach von all ihren Feinheiten und Nuancen überrennen lassen zu wollen. Ohne Filter und Dämmung. Ganz roh, nah und ungezähmt. „Nehmt mich mit, fresst mich auf, legt euch auf mein Gemüt und lasst uns tanzen, balgen, randalieren. Ganz laut, bis es still wird und wir müde sind vom Fühlen und Aufnehmen.“

Gefühlskomplex kompliziert

Aber wir reden doch ständig über unsere Gefühle? Alle singen darüber oder teilen sie in visuellen Arbeiten, Kunst. In Quotes und kleiner Poesie auf Instagram. Doch ich glaube, genau da liegt auch das Problem. Denn darüber reden ist das eine, aber sie wirklich zuzulassen und zu fühlen, in genau dem Moment, indem sie auftreten, das ist schwierig. Scheint manchmal schier unmöglich. Am Arbeitsplatz. In der U-Bahn. Auf der Party, wenn dieser eine Song spielt. Vor allem im gesellschaftlichen Miteinander hat man nicht immer die Möglichkeit, so offen mit ihnen hausieren zu gehen. Da gibt es immer noch Dinge wie Anstand, Etikette und Benimmregeln, die uns sagen: „So verhält man sich nun mal“. Ja, und niemand möchte der:die ein:e Person sein, die als sensibel oder über emotional abgestempelt wird. Vor allem nicht im beruflichen Kontext. Aber auch in anderen zwischenmenschlichen Konstrukten fällt es nicht leicht, sich in emotionaler Hinsicht komplett gehen zu lassen.

 

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Lost in Emotion, please (do not) send Intellekt

Daher bedienen wir uns dem Intellekt. Überbetonen die Ebene des Verstandes und spielen Dinge herunter, indem wir sie erklärbar machen. Punkt für Punkt aneinanderreihen und eine aalglatte Kette einfacher Kausalitäten erschaffen. Aus Emotion wird nunmehr Logik, und jedes Gefühl ein Problem, das gelöst werden kann. Ganz einfach dieses überaus hilfreiche Konzept der ‚Intellectualization of Emotions‘. Doch alles wissen und erklären zu können oder durchschaubar zu machen ist nicht immer hilfreich. Natürlich birgt es einen gewissen Vorteil zu verstehen, wieso man sich gerade überfordert fühlt und woher das kommt. Aber dieser konstante Akt des Intellectualization of Emotions ist am Ende doch auch nur Rhetorik für Gefühle. Was sich im Wort an sich widerspricht.

Stoppt dieses Intellectualization of Emotions! Geht mehr in euch fühlen!

Und auch ich lerne in diesem Punkt immer wieder aus meinen bisherigen Handhabungen. Versuche, mich zu selbst zu verbessern und mir zuzugestehen: Es ist okay, sich dem Ganzen hinzugeben. Mehr zu fühlen eben. Ganz in Ekstase und ohne Ende in Sicht. Loslassen. Weniger kontrolliert sein und statt Dinge mit „gut“ abzutun, sie auch einfach mal nicht gut sein lassen. Extrem. In alle Richtungen. Gib mir mehr davon. So viel, dass sich Dinge verselbstständigen und sie nicht mehr in meiner Hand liegen. Ganz irrational und unerklärbar. Denn manchmal weiß ich halt auch einfach nicht. Da ist einfach dieses Gefühl. Und mit ihm gleichzeitig ein Haufen anderer, die sich alle weder zusammenfassen lassen noch so richtig Sinn ergeben. Sondern einfach sind und in Zukunft dann auch sein bleiben können.

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