Ich glaube, ich habe das Kennenlernen verlernt!
Collagenbild via Pixaby
Kennenlernen: das Potpourri der Möglichkeiten
Bumble, Tinder, Hinge und Co., die Möglichkeiten sind endlos. Zählt man dann noch die gängigen Social-Media-Plattformen dazu, auf denen man sich ebenfalls via ‚Slide into DM‘, oder einem Like der Insta-Story ‚kennenlernen‘ kann, dann kommen da ganz schön viele Möglichkeiten zusammen. Eigentlich sollte man da meinen, dass wir uns kaum noch vor Gelegenheiten retten können und Meister darin sind, andere kennenzulernen. Doch irgendwie scheint diese Flut an Wegen (in vielen Fällen) fast nur ins „Nichts“ zu laufen:
Nach ein, zwei Nachrichten verstummt die Konversation. Jemand ghostet oder der andere stellt nach einem zweiwöchigen Austauschen von inhaltslosen Floskeln fest: dass es das nun auch nicht wirklich ist. Schafft man es dennoch über diese ersten Hürden zum ersten Treffen im richtigen Leben, dann klafft da auf einmal diese Lücke. Die Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Nähe im virtuellen Raum, die man sich wochenlang vorab aufgebaut hat und dem Moment, indem man sich dann tatsächlich gegenübersteht, ist zu groß. Was hat man sich im Zweifel hier noch zu sagen? Vor allem, wenn der nur in der Realität spürbare Vibe, auf einmal gar kein Match mehr ist.
Dating is pretty crazy fr. Someone can wake up one day & feel totally different about you for no reason. Y’all could have been cool the day before & boom next day it’s over with
— YourFavBaker🦋 (@iam_thowbie) June 26, 2023
Der Status: Es ist kompliziert
Es ist also (wie immer) kompliziert. Das weiß auch ich aus eigenen Erfahrungen und einem regelrechten Dating-Marathon meinerseits, den ich nach der Pandemie hingelegt habe. Mit dem Gefühl: Irgendwie fehlt da immer das gewisse Etwas, dass sich schwer in Worte greifen lässt. Diese ganz bestimmten Vibes an Aufregung und Spannung. Bis man dann mal wieder genau daran erinnert wird. Ganz plötzlich. Und so saß ich auf einmal vor meinen Freund:innen und erzählte: Ich habe lange nicht mehr so ein gutes Gespräch geführt. Zumindest nicht beim Kennenlernen. Da war er auf einmal wieder, dieser unstillbare Appetit nach mehr. Nach jeder Information, die der:die Gegenüber einem im Gespräch mitgibt.
Mit Details, die einen in neue Richtungen denken lassen und gleichzeitig das Gefühl geben, man kennt sich schon ewig. Wie ein gutes neues Gericht, dass einen an etwas erinnert, aber gleichzeitig neu und aufregend ist. Ein Gespräch, das wie ein Fluss ist. Und wo auch die Stille und das Schweigen alles andere als unangenehm sind. Die Welt um einen herum auf einmal gemutet wird und man sich voll und ganz in der Unterhaltung verliert. Wie in einem guten Buch, das einen fesselt und man es am liebsten nie wieder weglegen würde. Da war er also, dieser Vibe, das Gefühl, was ich zu der Zeit länger nicht mehr hatte und durch das sich das Kennenlernen wie das einfachste der Welt anfühlte.
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Das große Warum des Kennenlernens
Aber wieso klappt es in einem von gefühlt 100 Fällen und in vielen einfach nicht? War ich zuvor zu abgestumpft? Zu überstimuliert? Nicht interessiert genug? Oder einfach viel zu viel mit mir selbst beschäftigt, dass ich es zulassen konnte, von jemand anderem begeistert zu sein? War ich zu offen, aber nicht verletzlich oder nahbar genug? Oder habe ich einfach nie wirklich jemanden so richtig kennenlernen müssen, weil ich von vornherein eine Grenze gezogen haben: bis hierhin und nicht weiter. Oder ganz drastisch gesagt: Ich habe das Gefühl verlernt zu haben, wie man jemanden kennenlernt.
Und gleichzeitig hat sich in mir aber auch eine extrem große Abneigung gegen das Wort an sich entwickelt. Dieses so bedeutungsschwangere Wort Kennenlernen. „[Erfahrungs]wissen, Kenntnis[se] erlangen in Bezug auf jemanden; mit etwas bekannt werden; durch unmittelbaren Kontakt wissen, wie etwas ist. Jemandes Bekanntschaft machen, mit etwas in Berührung gebracht werden und damit konfrontiert werden“. So definiert es der Duden. Aber so verheißungsvoll ein „Ich habe jemanden kennengelernt“ auch klingt, so verhängnisvoll wird es, wenn man es in einem anderen Kontext zu hören bekommt.
Das Paradox hinter: „Ich habe jemanden kennengelernt!“
Denn hier finden sich zwei Seiten der Geschichte, die in einem Wort aufeinandertreffen und einen mit bitterer Süße daran erinnern, dass hier die Perspektive zählt, in der man sich befindet. Ist man Bot:in oder Zuhörer:in eines euphorischen „Ich habe jemanden kennengelernt“. Oder Empfänger:in eines ganz unangenehmen via Smartphone oder Gespräches kommunizierten, aber – ich habe jemanden kennengelernt. Denn in diesem Fall scheint es oft so, als wäre die Kennenlernphase das neue Warmhalten geworden. Während also jemand jemanden kennenlernt, lernt der:die schon wieder jemand anderen kennen.
Und man selbst denkt sich dann etwas ratlos: Aber mich hast du ja auch mal kennengelernt? Nur eben nicht so richtig. Anscheinend. Oder doch. Aber dann nichts gesagt. So eine Zeitverschwendung, oder? Weil während ich noch versucht habe, herauszufinden, wo das wohl hinführt. Führt es am Ende wohl einfach nur ins Leere. Weil jemand jemanden kennengelernt hat, während er noch jemand anderen kennengelernt hat. Ihr seht die Verstrickung, die sich fast selbst in den eigenen Schwanz zu beißen scheint. Denn während man während des Kennenlernens ja herausfinden soll, wo das wohl hinführt, ergibt das logisch nur Sinn, wenn beide sich der gleichen Herausforderung zu den gleichen Bedingungen stellen. Oder nicht? Ganz schön kompliziert. Denke ich und erinnere mich an eine weitere Situation des Kennenlernens, in der das Wort zum eigenen Paradox wurde.
Der Vorwurf: „Mir fehlt die Intimität!“
Während wir also fast leidenschaftlich darüber philosophieren, wie gerne man doch mal wieder so richtig jemanden kennenlernen wollen würde, verstrickt man sich ebenso oft wieder in ungeklärten Verhältnissen. Den unverbindlichen Situationships, in denen das Kennenlernen von vornherein auf ein Minimum limitiert wird. Natürlich mit vorheriger Absprache. Das macht man ja heute so: Alle wollen ’nix Festes‘ und die Umstände sind doch eh nie ideal, um sich dem vollen Maße des Kennenlernens hinzugeben. Plus wie macht man das überhaupt. Hier hast du meinen Lebenslauf, meine Social-Media-Accounts, meine Freund:innen, mein Lifestyle – aber so wirklich das Innerste will ja auch keiner entpacken und teilen.
Kennenlernen 2.0: Gibt es eine Lösung?
Und all das führt mich wieder zurück zu mir selbst. Ich muss mit mir selbst aufräumen. Aber vor allem damit, was ich von anderen erwarte. Vielleicht auch mal ehrlicher verlangen, dass Dinge geklärt werden. Sie ansprechen und nachfragen: Sind wir hier eigentlich auf der sogenannten Same Page? Sind wir beide bereit dafür jemanden kennenzulernen oder nur auf der Suche nach kurzfristiger Gesellschaft, die mehr ist als ein Flirt, aber weniger als eine gemeinsame Vorstellung der Zukunft. Und natürlich ist auch das wiederum ganz schön kompliziert. Wer spricht schon gerne über Gefühle? Auch ich schreibe sie lieber ins Internet. Sicherlich bietet Dinge fühlen und sich verletzlich zeigen eine Angriffsfläche. Aber eben auch großes Potenzial, dass sich genau da jemand anderes wiederfindet oder genau weiß, wie er:sie dir die Hand reichen muss, um die Leichtigkeit des Kennenlernens unerträglich zu machen und nicht unvorstellbar unverbindlich.
Eine Antwort zu “Ich glaube, ich habe das Kennenlernen verlernt!”
[…] Favoriten kann ich in diesem Jahr gar nicht ausmachen. Gerne mochte ich die Kolumne „Ich glaube, ich habe Kennenlernen verlernt„. Dann war das Interview mit Düzen Tekkal für mich sehr emotional und berührend. Aber […]