Ich habe Reality TV eigentlich abgeschworen. Gut, auf dem deutschen Markt ist das auch nicht schwierig. Sendungen wie Der Bachelor oder Big Brother sind ja mehr Trash TV als Realität, und ich nach der letzten Staffel Bachelor endgültig geheilt. Blickt man aber über den großen Teich, weiß man, die Amerikaner, die können das positive Reality-TV einfach. Das war schon bei MTV The real world… so, ging über The Hills und Laguna Beach bis hin zu Spin Offs wie The City und Queer Eye. Reality TV in Form einer Seifenoper mit positiven Vibes und der leichten Portion des Voyeurismus. Irgendwie schön fürs Herz, nah am Menschen, aber nicht so trashig und fremdscham-hervorrufend wie so manches andere Format. Diese leicht gescripteten Reality-TV-Formate, die einem die ProtagonistInnen ans Herz wachsen lassen, man mit ihnen mitfiebert und am Ende ebenfalls so glücklich ist, weil das Lieblingspärchen sein Glück gefunden hat.
Netflix war bislang nicht für seine Reality-TV-Formate bekannt und hat jetzt doch eines auf den Markt geworfen: Love is blind. In dem zehnteiligen Reality-TV-Format suchen 15 Männer und Frauen nach der großen Liebe. Aber nicht a la Love Island mit jeder Menge Alkohol, nackter Haut und lautstarken Eifersuchtsdramen, sondern in dunklen Kabinen mit Samtsofa, Ruhe und Gesprächen – ohne jeweils den anderen Date-Partner zu sehen. Erst, wenn ein Paar bereit ist, sich gegenseitig zu heiraten und sich zu verloben, trifft es aufeinander. Das „Experiment“ soll beweisen, dass in Zeiten von Tinder die Optik am Ende doch nicht ausschlaggebend ist, ob es Liebe wird.
Klingt unfassbar kitschig und romantisch, ist es auch. Love is blind ist eine so herrlich amerikanische Produktion, die ans Herz geht und den Nerv der Zeit trifft. Denn allein in meiner Bubble sind alle mehr als begeistert von dieser etwas anderen Dating-Show. Und auch ich bin süchtig!
Wenn wir mal all das Wissen über Casting, gescriptete Szenen und strategische Ausrichtung der Sendung außen vorlassen und auch den nicht vorhandenen feministischen Anspruch der Show, liebe ich es, dass uns Love is blind zwischen all der Tränendrüsen und Hach-Momente so manches über die Liebe verrät, das sich auch ins reale Leben übertragen lässt. Etwas, was die meisten Reality-TV-Formate nicht schaffen. Seid ihr bereit für die Love is blind-Botschaften?
Achtung – Spoilergefahr!
Emotionale Bindung ist wichtiger als die körperliche
Ich bin jemand, der Nähe vor allem über Kommunikation aufbaut. Die körperliche Ebene gehört dazu und kommt beim Dating zur richtigen Zeit dazu, aber davor ist es mir wichtig, dass ich mit meinem Gegenüber gute Gespräche führen können, mich austauschen kann und verstanden fühle. Kein Wunder, dass ich das (wahrlich clever durchdachte) Konzept von Love is blind ab Sekunde 1 gefeiert habe. Sich gegenüber sitzen, sich aber nicht sehen und sich über Worte und Gespräche kennenlernen. Das Experiment zeigt: Während manche bei einigen Personen schnell auf eine tiefe Ebene gelangten, blieb es bei anderen auf der oberflächlichen Smalltalk-Ebene. Während die eine sich mit dem anderen gar nicht unterhalten konnte, fand eine andere sofort eine Humorebene mit demjenigen. Inwieweit da die Caster natürlich ihre Finger im Spiel hatten, wissen wir nicht. Aber: Jeder von uns hat eben die Menschen, mit denen man auf einer Wellenlänge ist und die, denen man so gar nichts zu sagen hat.
Oft gehen wir mit vorgefertigten Bilder ins Date, das Gegenüber soll mindestens so groß und blond/braunhaarig/rot- oder schwarzhaarig sein, einen guten Job haben und bitte auch sonst noch super aussehen. Sicher, die äußeren Umstände müssen passen, die Attraktivität auch, aber am Ende zählt nur eines: ob ich mich mit meinem Gegenüber austauschen kann. Ob ich mich authentisch geben kann, ohne Angst zu haben, nicht angenommen zu werden. Und: ob wir gemeinsam die selben Werte vertreten, die eine Zukunft möglich machen. Bei Love is blind entsteht erst die emotionale Bindung, vor der körperlichen Anziehung. Und siehe da: Wenn wir jemand mögen, finden wir ihn meistens auch attraktiv. Das Sprichwort „Liebe macht schön“ stimmt also – und zeigt: Wir sollten so viel mehr Wert auf die emotionale Ebene legen. Und den Menschen, die aus unserem optischen Raster fallen, ebenfalls eine Chance geben. Denn vielleicht haben wir ja den selben Humor? Amber würde sagen: Go for it!
Wir sollten uns nicht von außen beeinflussen lassen
In den Kabinen sind sich die Paare sicher. Sie wollen diesen Mann oder diese Frau heiraten. Innerhalb kürzester Zeit haben sie eine Vertrauensebene geschaffen, eine Basis, von der sie sicher sind, dass sie auch in Zukunft halten wird. Doch dann geht es in die Realität. Die Paare treffen das erste Mal aufeinander, sehen sich – und beurteilen den Menschen nicht mehr nur über seine Worte, sondern über die Optik. Zweifel werden laut. Was denkt meine Familie? Passt dieser Mensch in mein Leben? Ich arbeite bereits, er studiert – wie soll das funktionieren? Und: Was werden nur die anderen sagen? Der Kopf schaltet sich ein, das Herz rückt in den Hintergrund.
Die Sicherheit, vielleicht das kuschlige Traumgefühl der Kabinen entfällt. Jetzt heißt es, nur noch auf das Herz hören und das Gefühl, das man in der Kabine hatte, diese absolute Sicherheit der eigenen Emotionen auch ins reale Leben übertragen. Kleiner Spoiler: Das schafft nicht jeder. Aber Love is blind zeigt: Es sollte uns egal sein, was andere Menschen über uns und den Menschen denken, den wir lieben. (Okay, ausgenommen sind wie immer toxische Beziehungen oder Gewalt etc.). Sagt uns unser Gefühl, dass es der richtige ist, sollten äußere Umstände wie Job, Meinungen oder Geld erstmal egal sein. Denn ist die Basis, eine emotionale Stabilität da, klappt auch der Rest.
Ihr sagt jetzt vielleicht: „Na gut, Antonia, du hoffnungslose Romantikerin, wie soll ich denn mit jemanden zusammen sein, der nur Schulden macht, während ich ein Sparfuchs bin?“ Ich sag’s mal so: Ich hoffe, auch das hättet ihr bereits in der Kabine (oder eben im realen Leben) geklärt und ausgiebig besprochen – und im besten Fall schon vorher für euch entschieden. Mir geht es um die äußeren Umstände, mit denen wir als Verliebte uns schnell nach der ersten Endorphin-Europhie beirren lassen. „Er ist so anders als alle meine Exfreunde.“ „Sie wird meinen Eltern nicht gefallen, da sie nur eine Ausbildung hat“, „Er kommt aus einer anderen Kultur“ oder auch „Sie ist schon zweimal geschieden, was werden nur alle sagen?“. Gedanken, die uns an unseren Gefühlen zweifeln lassen, weil nicht jeder aus dem äußeren Umfeld sofort zur Liebe applaudiert. Liebe ist nicht rational, sie entscheidet nicht nach kulturellem Hintergrund, nach Job oder nach Herkunft – und das beweist Love is blind so wundervoll klar.
Zeit ist kein Garant
„Was? Ihr heiratet schon nach vier Wochen? Ihr seid verrückt.“
Jeder von uns kennt Storys, in denen sich Menschen blindlings in eine Beziehung stürzen und nach wenigen Wochen geheiratet haben – und es hat gehalten. Manchmal aber auch nicht, wie Prominente wie Britney Spears bewiesen haben. Love is blind wurde im Herbst 2018 gedreht und jetzt ausgestrahlt. Eineinhalb Jahre nach der Ausstrahlung sind beide Paare, die sich das Ja-Wort gegeben haben, immer noch glücklich verheiratet. Es hat funktioniert. Sie waren sich zum Zeitpunkt der Hochzeit sicher – und haben sich nicht geirrt. Ist das jetzt Glück? Oder einfach eine gute Marketing-Strategie? Vielleicht.
Aber ist Liebe nicht immer auch etwas Glück? Zeit ist kein Garant, dass Liebe hält. Das Leben ist zu kurz, um immer nur auf Nummer sicher zu gehen. Das mag vielleicht wirklich hoffnungslos romantisch zu sein, aber wenn es sich richtig anfühlt, warum nicht nach 3 Wochen zusammenziehen oder nach wenigen Monaten heiraten? Weil die Gesellschaft uns vermittelt, dass man das nach „so kurzer Zeit“ nicht tut?
Wie viele Paare wagen nach zehn Jahren den Schritt zum Traualtar und sind nach 11 Jahren dann geschieden? Einige. Liebe ist kein Spiel, dessen Ende man kennt oder gar kontrollieren kann. Menschen sind im ständigen Wandel, jeder von uns verändert sich und das tun auch unsere Beziehungen. Sie sind Arbeit und müssen gepflegt werden. Die Basis bildet die Kommunikation. Können wir offen mit unserem Partner sprechen, unsere Gefühle offenbaren, fällt es uns leichter, gemeinsame Lösungen und Wege zu finden.
Love is blind vermittelt uns auf dem leicht bekömmlichen Weg, auf unser Gefühl zu hören. Sind wir uns unserer Gefühle sicher- und unser Gegenüber auch, sind wir offen und authentisch, ist die Zeit nur ein Richtwert der Außenwelt. Die Liebe, sie braucht keine zeitliche Einordnung, sondern nur zwei Menschen mit dem selben Ziel: gemeinsam durchs Leben zu gehen.
Sabotiere nicht dein eigenes Glück
Hach ja, in der Liebe kämpfen wir ganz oft gegen unsere eigenen Dämonen. Erfahrungen und Erinnerungen aus der Vergangenheit lassen uns an Menschen und neuen Erlebnissen zweifeln. Wir vermuten das Schlimmste, bleiben misstrauisch und schaffen es nur selten, uns ganz unbedarft wie ein Teenager in eine neue Liebe zu stürzen. Und wenn doch: Irgendwann klopft der Dämon aus der Vergangenheit an und fragt: „Ist es vielleicht nicht zu perfekt?“ Dann beginnen wir das, was sich gut anfühlt, zu hinterfragen, misstrauen unserem Gefühl und unserem Gegenüber und brechen Streitigkeiten vom Zaun, nur um die Bestätigung unserer Zweifel zu bekommen. Hallo Selbst-Sabotage.
Bei Love is blind kann man ganz wunderbar beobachten, wie manche*r ProtagonistIn ihrem Glück nicht traut. Nicht glauben kann, dass es wirklich so einfach geht, die Sache mit der Liebe. „Sonst waren alle Männer immer Arschlöcher, er kann gar nicht so nett sein, wie er tut.“ Alte Verhaltensmuster ploppen auf, die offene Kommunikation wird eingestellt, das Paar verirrt sich im Diskussionsdschungel.
Erfahrungen und Erlebnisse prägen uns, doch gilt auch immer: Jeder Mensch ist anders. Nur weil meine vorherige Beziehung furchtbar geendet ist, mein letztes Date mich geghostet hat oder ich immer wieder betrogen wurde, muss das nicht wieder passieren. Indem ich aber mir das selbst vorhersage, danach handle, erreicht man schnell die Selfullfilling prophecy. Also lieber mit dem Gegenüber über die Ängste sprechen, die Sorgen äußern und an sich arbeiten, die Traumata und negativen Erfahrungen hinter sich zu lassen.
Sei bei einem Korb wie Kenny, nicht wie Carlton
Zurückweisung ist immer hart. Es trifft uns ins Bein, es zerreißt uns das Herz und unser Ego rutscht einige Stockwerke tiefer in den Keller. Vor allem Männer können oft schwer mit Zurückweisungen von Frauen umgehen. Auch bei Love is blind kassiert so manche*r einen Korb, nicht zuletzt sogar vor dem Traualtar im Beisein aller FreundInnen und Familie. Der Horror.
Doch anders als der männliche Protagonist Carlton, der seine kurz zuvor Auserwählte nach dem – zugegeben aus ziemlich unfairen Gründen erteilten – Korb als Schlampe beschimpft und verflucht, erträgt ein Mann die Zurückweisung mit Stil: Kenny. Ohne Wut akzeptiert er den Korb, fasst sich ein Herz und umarmt mit seinen warmen Worten auch den Rest der Anwesenden. Erst in der Ruhe lässt er seiner Traurigkeit und seinen Gefühlen freien Lauf. Stilvoller hat wohl nie jemand im TV einen Korb kassiert.
Und ja, wir reden hier immer noch von einer schön inszenierten TV-Show, in der erstens alle ProtagonistInnen höchstwahrscheinlich mehrere Castingründen durchlaufen haben, genau wussten, worauf sie sich eingelassen haben und am Ende nicht alles aus ihnen heraus, sondern von einem Script gekommen ist. Aber: So ein bisschen Wahres hatte diese Show dann eben doch an sich.
Und vielleicht hat sie genau deswegen mein Herz im Sturm erobert. Wer ist ebenfalls süchtig?
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6 Antworten zu “Hilfe, ich liebe „Love is blind“ und die Message der Show”
Hi Antonia, hab die Serie auch begeistert durchgeguckt. Ist wirklich gut gemacht und die Grundidee des Kennenlernen ohne Optik ist klasse. Allerdings – und das entkräftete die Grundidee zu einem guten Teil – sind absolut alle Teilnehmer*innen normattraktiv. Und noch eine Anmerkung zu Carlton: seine Aggression fand ich auch schwer zu ertragen. Allerdings hat sich als (schwarzer) Mann mit seinem Outing als bi/genderfluid Liebender in der Sendung sehr verletzlich gemacht und seine Partnerin hat mit ihrer Reaktion genau die Vorurteile bedient (bi = unentschlossen, untreu…), mit denen er vermutlich zu kämpfen hat. Deshalb, das sagte er ja auch hinterher selbst, die extreme Reaktion seinerseits, für die er sich dann entschuldigt hat. Kenny mochte ich auch, aber er trägt als weißer privilegierter Heteromann auch keine solche Last mit sich herum. Sowas sollte man auch bedenken beim Daten und Lieben, finde ich.
Liebe Grüße, Katharina
Liebe Katharina,
da stimme dir bei beidem zu. Das Casting war schon sehr auf normattraktive Menschen ausgelegt, und ja, Carlton hat – gerade bei der Reunion-Folge – auch gezeigt, dass er sehr unter seinem Verhalten und der daraus folgenden Konsequenzen sehr zu leiden hat. Vermutlich war auch die große Unsicherheit sich selbst gegenüber die Folge, dass er so massiv reagiert hat. Aber ja – wie ich unten schreibe – die Zurückweisung war auch keinesfalls fair. Danke für deine Ergänzungen! Liebe Grüße!
Ich habe das auch völlig fasziniert durchgesuchtet, obwohl ich derartige deutsche Formate aufgrund ihrer Unerträglichkeit seit Jahren ignoriere. Der faszinierendste Teil für mich war der, wie viele der (für mich) basalen Lebensthemen/-einstellungen aber offensichtlich eben nicht in den Pods angesprochen wurden. Von Ambers finanzieller Situation bis hin zu Carltons Vergangenheit, bei der meiner Meinung nach nicht sie selbst das Problem war, sondern eher, dass er erst zu diesem „späten“ Zeitpunkt davon gesprochen hat. Ich fand es jedenfalls extrem spannend, habe unzählige philosophische wie psychologische Fragen gewälzt und selten bei einer Sendung so aufrichtig mitgefiebert/den Kopf geschüttelt wie hier :)
Ja, das fand ich auch sehr faszinierend. Dass es eben doch Themen gab, die mancher gescheut hat, trotz aller Vertrautheit anzusprechen. :) Ein sehr spannendes Experiment – und doch darf man natürlich nicht vergessen, eben auch eine Show! Wer weiß, wie viel davon gescripted war? <3
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