Hedonistic Sustainability: Warum Gutes Tun nicht unbedingt weh tun muss
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Hannah Ernst.
Als meine Tante mich letztens fragte, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, ein vegetarischer Vintage-Fan zu sein, aber „in der Weltgeschichte herumzufliegen“, fühlte ich mich unangenehm ertappt. Erst kurz danach realisierte ich: Am besten gelingt mir die Umsetzung nachhaltiger Angewohnheiten, die Spaß machen. Für mich sind das vegane Fleischersatzprodukte, fast ausschließlich Secondhand Mode und Zugreisen (natürlich nur, wenn die Reiseziele nicht zu weit entfernt sind).
Wenn wir eine umweltbewusste Lebensweise anstreben, stellen wir uns oft die Frage: Wie viel von unserer bisherigen Lebensqualität sind wir bereit zu opfern, um nachhaltiger zu handeln? Warum befeuern wir immer weiter die Vorstellung, dass Gutes tun wehtun muss? Und wie können wir stattdessen eine Win-Win-Situation schaffen?
Kann Nachhaltigkeit hedonistisch sein?
„Hedonistic Sustainability“ hat so viel Buzzword-Potential, dass es das „Conscious Living“ werden könnte. Doch was genau bedeuten diese Worte in Kombination? Der dänische Architekt Bjarke Ingels prägte den scheinbar widersprüchlichen Begriff „Hedonistic Sustainability“, als er 2011 damalige Projekte seines Studios vorstellte, die statt einer deprimierenden und von Verzicht geprägten Nachhaltigkeit einen hedonistischen Zugang fanden, also auf möglichst viel Vergnügen aus waren. Zum Beispiel planten sie eine Anlage zur Müllverwertung, auf dessen schrägem Dach die Bewohner:innen Kopenhagens Ski fahren können.
Hedonistic Sustainability ist aber nicht nur eine Herausforderung im Sustainable Design, sondern auch für uns alle im Privaten. Ich denke, wir werden nie motiviert genug sein, aus einer rein moralischen Perspektive heraus den Planeten zu retten, wenn dabei unsere egoistischen Bedürfnisse wie Mobilität und Konsum auf der Strecke bleiben müssen. Natürlich hilft es nicht gerade, dass sich einige dieser Bedürfnisse spätestens seit den Boomer-Jahren so etabliert haben, dass ein Verzicht darauf so wäre, als würde man einem Kind sein Lieblingsspielzeug wegnehmen. Phänomene wie Jeans für 3 Euro und Flüge für 19 Euro machen deutlich, dass uns klimaschädliche Entscheidungen immer leichter gemacht werden. Denn warum sollten wir elf Stunden mit dem Zug fahren, wenn der Flugpreis für dieselbe Strecke genauso teuer ist und die Fahrt nur einen Bruchteil der Zeit dauert?
Die FOMO der Nachhaltigen
Das Essenzielle bei einem nachhaltigen Lifestyle ist doch, dass wir nicht das Gefühl bekommen, wir verzichten auf etwas Besseres. Sonst ist es so, als fände nebenan eine Party statt, zu der wir zwar eingeladen waren, aber aus einem Anflug moralischer Verpflichtung freiwillig abgesagt haben – und jetzt haben wir die FOMO unseres Lebens. Wir brauchen also hedonistische Alternativen, die nachhaltiger sind als unsere herkömmlichen Gewohnheiten: Wie wenn man auf dem Flohmarkt Original Y2K Boots findet, statt einem Imitat aus einer aktuellen Fast Fashion Kollektion. Metallstrohhalme, mithilfe derer wir uns beim Trinken unseres Iced Lattes luxuriöser fühlen, als mit einem Pendant aus Plastik. Veganes Lachs-Sushi, das dem überzüchteten Fisch im Geschmack in nichts nachsteht.
Von unnachhaltigem Hedonismus zu hedonistischer Nachhaltigkeit
Wir sollten unser derzeitiges System des unnachhaltigen Hedonismus gegen ein neues System der hedonistischen Nachhaltigkeit austauschen. Und mit unnachhaltigem Hedonismus meine ich an dieser Stelle nicht nur einen klimaschädlichen, sondern auch einen vergänglichen. Denn Bezeichnungen wie „Fast Food“ oder „Fast Fashion“ implizieren nicht nur eine schnelle Produktion, sondern deuten bereits an, dass auch die Freude am Konsum nicht besonders langlebig ist. Vielleicht müssen wir dafür auch unser Verständnis von Hedonismus anpassen, denn es soll bei Hedonistic Sustainability nicht um egoistische, individualistische und kurzlebige Freuden gehen. Produkte, die wir konsumieren, sollten uns stattdessen langanhaltendes Vergnügen bereiten und unser Leben bereichern, wie etwa hochwertige Kleidung oder gesundes Essen.
Ist unser Verhalten tatsächlich hedonistisch oder sind wir nur Opfer von gelungenem Marketing?
Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns fragen, ob unsere hedonistischen Gewohnheiten wie Impulskäufe, teure Urlaube oder geleaste SUVs tatsächlich uns selbst glücklich machen, oder ob sie performative Anzeichen eines Imposter-Syndroms sind. Versuchen wir in Wahrheit nicht oft anhand unseres Konsums Unzulänglichkeiten an uns selbst zu minimieren oder Menschen zu beeindrucken, die uns eigentlich gar nicht wichtig sein sollten? Wenn wir bei einem Modetrend dabei sein wollen, nur um dabei gewesen zu sein, ist das vermutlich eher ein Symptom von gelungenem Marketing als von tatsächlichem Glück.
Am Ende sollten wir einfach hinterfragen, ob unsere hedonistischen Gewohnheiten aus dem Zwang der Konsumkultur stammen, oder weil sie uns tatsächlich (langfristig) glücklich machen. Wenn ein Langstreckenflug nach Bali aber bedeutet, Erinnerungen davon zu tragen, die man noch seinen Kindern erzählen wird, werde ich die letzte Person sein, die den ökologischen Finger hebt.
Wie kann Hedonistic Sustainability aussehen?
Hedonistic Sustainability kann der verpackungsfreie Einkauf im Biomarkt sein. Oder der Kauf des upgecycelten Einzelstücks, für das man sich nicht zwischen modischem und nachhaltigen Anspruch entscheiden musste. Oder die vegane Ernährung, von der die Umwelt genauso profitiert, wie die eigene Gesundheit.
Das sind natürlich alles wieder nur Beispiele aus dem Konsumbereich. Ich finde aber, wir sollten auch unabhängig von Konsum in Erfahrungen und Skills investieren, die Spaß machen und uns gleichzeitig zu einem nachhaltigen Lifestyle verhelfen. Für mich war das so, als ich gelernt habe zu nähen: Das (Um)nähen oder Reparieren von Kleidung hat mir zu einer neuen Art von Respekt für Klamotten verholfen, die ich vorher unbedacht konsumiert, entsorgt und als selbstverständlich angesehen habe. Nähen lässt mich nicht nur die Lebensdauer meiner Kleider verlängern, sondern bereitet mir auch Freude. Eine andere essenzielle Fähigkeit ist für mich vegetarisch kochen: Als ich mich vor einigen Jahren entschieden habe, weitgehend fleischlos zu essen, habe ich noch zu Hause gewohnt. Bis dahin hatte meine Mutter, eine leidenschaftliche Köchin, alle Gerichte zubereitet. Durch den Verzicht auf Fleisch habe ich vegetarisch kochen kennen und lieben gelernt – und habe mir damit einen nachhaltigen Skill angeeignet, der sich mittlerweile zu einer meiner größten Leidenschaften entwickelt hat.
Langfristige Entscheidungen treffen und an die Gemeinschaft denken
Natürlich bedeutet es manchmal mehr Aufwand, sich nachhaltig zu verhalten. Aber ich denke auch gerne an die Vorfreude zurück, die ich als kleines Kind verspürt habe, wenn ich am ersten Tag des Sommerurlaubs um fünf Uhr morgens aufstehen musste und mir in der stundenlangen Autofahrt ausgemalt habe, wie die nächsten zwei Wochen wohl verlaufen würden. Ist das nicht romantischer, als einfach ins Flugzeug einzusteigen? Genauso wenig wie diese Urlaubs-Euphorie will ich die kleinen Erfolgsmomente missen, wenn ich nach 45 Minuten Vinted-Scrollen endlich genau das Piece gefunden habe, das ich mir First Hand eben nicht kaufen wollte.
Insgesamt ist es hilfreich, wenn wir uns darüber Gedanken machen, was gut für die Gemeinschaft ist, anstatt immer nur über uns selbst nachzudenken. Da habe ich auch selbst noch an mir zu arbeiten. Vielleicht lehrt uns Hedonistic Sustainability statt kurzfristiger, egoistischer Freude eine langfristige, gemeinschaftliche Freude anzustreben.
Und wenn es doch eine Flugreise wird, kann man ja in Betracht ziehen, einen kleinen Aufpreis für CO2-Kompensation draufzulegen – dafür dass der Flugpreis so kriminell billig war, als gebe es keinen Klimawandel. Dann habe ich nächstes Mal auch direkt eine Antwort an meine Tante, wenn sie mich wieder fragt, wie ich das viele Fliegen mit meinen sonst so nachhaltigen Gewohnheiten vereinbaren kann.
Eine Antwort zu “Hedonistic Sustainability: Warum Gutes Tun nicht unbedingt weh tun muss”
[…] Secondhand September. Das heißt 30 Tage ausschließlich preloved shoppen oder gänzlich verzichten – und natürlich auch tragen! Doch vor allem geht es darum, inmitten des turbulentesten Modemonats darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, dass wir unsere Kleidung wertschätzen. Jede:r für sich selbst ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie wir zu Textilien stehen – und wie einfach es sein kann, auf diese Art und Weise gegen die Überproduktion und Umweltverschmutzung, die durch die Industrie entstehen, ein Zeichen zu setzen. Es geht ja schließlich um die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen: im besten Fall in einer respektvollen Symbiose mit unseren Ressourcen und der Umwelt. […]