Ghosting und andere Dating-Launen: Warum ich Dolly Aldertons Buch „Gespenster“ mit jeder Faser gefühlt habe
Ich hasste Datingapps, ich wollte nie auf einer sein, und landete am Ende doch dort. Ich hatte immer die romantische Vorstellung, ich treffe einen tollen Mann im Supermarkt. An der Gemüsetheke. Okay, vielleicht auch weniger hollywoodreif in einer Bar, im Kreise meiner Freund*innen. Doch mit der Zeit meines Single-Daseins musste ich mir eingestehen: Die Aufmerksamkeitsspanne der Singles im realen Leben hatte sich auf ein Minimum reduziert. Warum sich umschauen, wenn ein Blick ins Smartphone reicht? Also gab ich mich geschlagen und fand mich auf einer Datingapp wieder. In der Hoffnung, keiner sieht mich. Was in Anbetracht einer Datingapp irgendwie nicht den Sinn erfüllt. Aber irgendwie – und das ist das absurde am Single-sein über 30 – war es mir unangenehm im Rahmen einer App so offensichtlich nach Liebe zu suchen. Obwohl es das natürlichste der Welt ist. Sich eine Bindung, eine Beziehung, ja vielleicht auch nur eine Liebe in irgendeiner Form zu wünschen.
Und da wären wir schon beim ersten Punkt, den ich mit Nina, der Protagonistin aus Dolly Aldertons neustem Buch „Gespenster“ gemeinsam habe. Nina George ist erfolgreiche Foodautorin, 32 Jahre alt und Single. Während ihre Schulfreundin Katherine bereits das zweite Kind erwartet und in der Vorstadt Londons glücklich wird, weiß Nina nur eines: Das will sie (erstmal) nicht. Doch Marathon-Dating betreiben wie ihre beste Freundin Luna? Nur wenn’s sein muss. Weil das nächste Buch fast im Kasten ist, findet sich Nina plötzlich doch auf Dating-Apps wieder. Gar nicht mal so schlecht, oder?
Wer mit über 30 (wieder) anfangen muss, zu daten, hat es wahrlich schwerer. Gerade als Frau. Irgendwie möchte man locker sein, jemand netten treffen, eine gute Zeit haben. Aber so einfach ist es dann mit über 30 doch nicht mehr wie mit 25. Schließlich suggerieren uns Gesellschaft, Freund*innen und Bekannte, dass die Zeit nun wahrlich nicht unendlich ist. Für Frauen. Oder wie Dolly Alderton es beschreibt: „Wenn du weiblich und über dreißig bist und eine Familie gründen willst, bist du den Launen irgendwelcher verantwortungsloser Typen ausgeliefert. Sie bestimmen die Regeln, wir müssen gehorchen. Man darf nie sagen, was man will oder was einen gerade beschäftigt, weil über der Beziehung ein Damoklesschwert hängt, das sofort runterfällt, wenn man zu „fordernd“ rüberkommt.“
Ich habe es ehrlicherweise gehasst. Und irgendwann beschlossen: Da mache ich nicht mit. Ich habe keine Lust auf Spielchen, keine Lust, mich permanent mit meinen Wünschen und (gesunden) Forderungen an eine zwischenmenschliche Beziehung zurückzuhalten, nur aus Angst, den potentiellen Kandidaten wieder zu vertreiben. Wenn dem so ist, na gut.
Etwas, das auch Nina George in „Gespenster“ lebt. Sich verstellen für einen Mann? Wirklich nicht. Ihre ersten Schritte auf Datingapps funktionieren, sie findet Gefallen an der reichen Auswahl. Wenngleich ihr ihre Freundin Luna erzählt, dass sich die Matches seit ihrem 30. Geburtstag halbiert hätten, weil viele Männer dreißig als die oberere Altersgrenze angeben. „Seit sie das wisse, komme sich mit den wenigen Matches prima klar.“ Ganz so knallhart habe ich es nicht erlebt, aber ich sag mal so: Manch eine Single-Freundin von mir macht sich auf Dating-Apps jünger.
Nina datet, sie trifft Max, einen jungen Mann, der solide, ja fast schon perfekt erscheint. Und plötzlich kitzelt in ihr das Unbekannte, der Wunsch nach Bindung, nach Langlebigkeit, Zweisamkeit, der Blick nach mehr Zukunft als die nächste Nacht. Max tut ihr gut. Denn zwischen wilden Dating-Erlebnissen und Erfolgen als Foodautorin kämpft Nina auch noch mit der Beziehung zu ihren Eltern. Ihre Mutter lässt nur wenig Nähe zu, liebt die Konfrontation und Nina auf bestimmte Art und Weise. Und ihr Vater, ihr sicherer Hafen? Er leidet an Demenz, vergisst zunehmend Dinge – und hin und wieder auch Nina.
Eine neue Beziehung tut ihr gut. Doch Max taucht auf – und nach mehreren Monaten einfach wieder ab. Verschwunden.
Und Nina fällt. Und fällt. Und fällt.
„Vielleicht ist sein Telefon kaputt. Vielleicht wird er wegen eines technischen Fehlers die ganze Zeit online angezeigt, obwohl er in Wahrheit gar nicht auf Whatsapp ist. Hältst du das für möglich?““Ist das eine ernstgemeinte Frage?“ „Ja.““Nein, ich halte es nicht für möglich.“
Ghosting gehört zu den schlimmsten Dating-Phänomen überhaupt. Man möchte meinen, wer über 30 Jahre alt ist und sich auf den Dating-Markt begibt, weiß, dass Ghosting feige, verachtend und verletztend ist. Wer sich selbst in die Augen schauen möchte, ghostet nicht. Nie.
Als ich das erste Mal ernsthaft datete, fünf Treffen hatte und auf meine letzte Nachricht keine Antwort mehr bekam, schien mir die Diagnose „Er ist tot“ wahrscheinlicher als „Er ghostet mich.“ Niemand, dachte ich, wirklich niemand über 30 schafft es nicht, einfach zu sagen: „Sorry, ich glaube, es passt doch nicht so.“ Was ja nun wirklich kein Problem wäre. Schon gar nicht nach ein paar Dates. Ich tat es also wie Nina in „Gespenster“: „Ich interpretierte unsere ersten SMS wie einen Theaterdialog. Immer auf der Suche nach einer Antwort. Hatte ich etwas falsches gesagt? Hatte es Anzeichen gegeben? Oder war er vielleicht wirklich einfach gestorben?
Wenige Wochen später hatte ich die Antwort: Ich stand in einer Bar und der gute Mann kam putzmunter und lebendig rein. Er hatte mich geghostet. Das Bittere: Man gewöhnt sich dran. Die Angst vor Ghosting wächst, aber mit jedem Date in dieser neuen, schnelllebigen Dating-Welt lernt man: Ghosting gehört dazu. Es scheint leichter zu sein, einfach zu verschwinden, als doch nochmal kurz Auf Wiedersehen zu sagen. Wie verletztend das Verhalten ist, wie ratlos man den anderen zurücklässt, interessiert die wenigsten.
„Er weiß, dass ich nicht dastehen will wie eine Verrückte. Ich lasse mich von der Angst, jemand könnte mich für verrückt halten, mundtot machen. Und ganz nebenbei werde ich wirklich verrückt, weil ich keine Antwort bekomme.“
Jede weitere SMS erscheint zu viel, jede Nachfrage zu fordernd. Man will nicht als verrückt gelten, wird aber selbst verrückt, weil man keine Antwort bekommt. So wie mir ergeht es auch Nina. Das Ghosting von Max stürzt sie in eine Krise. 32 Jahre alt, schlimmster Liebeskummer aller Zeiten. Und Wut. Wut auf all die Männer, die ihr und ihren Freundinnen das antun.
„Ich dachte an all die Männer zwischen 30 und 40, wie sie äußerlich altern und währenddessen durchs Leben laufen wie durch ein Spielzimmer, Frauen und Babys aus riesigen, übervollen Kisten holen und wieder fallen lassen“, schreibt Dolly Alderton in „Gespenster“, und ich nicke. Zu oft habe ich diese Geschichten gehört, zu oft war ich Zeugin einer perfekten Liebesgeschichte, die abrupt endete. Ohne Grund, ohne Ansage. Einfach vorbei. Zurückblieben Frauen, die sich fragten, was sie falsch gemacht hatten. „Nichts“, antwortete ich, und es war die Wahrheit.
Dating ist immer anstrengend, doch mit über 30 ist es anders. Man weiß, was man will und sehnt sich doch irgendwie nach dieser einen traumhaften Begegnung. Man hatte schon ein, zwei schlimme Liebeskummer und ist vorsichtig geworden. Man riskiert sein Herz und hat doch Angst, dass es gebrochen wird. Es ist kompliziert, könnte der Beziehungsstatus zwischen Dating-Apps und Singles über 30 lauten. Es ist verdammt kompliziert.
Dolly Alderton schafft mit „Gespenster“, genau diesem verrückten Beziehungsstatus ein Gesicht zu geben. Sie erzählt die Geschichte von Nina, und doch ist es die Geschichte von so vielen Frauen über 30. Eine Geschichte von Frauen, die nach der Liebe suchen, gleichzeitig vielleicht doch noch nicht so genau wissen, was sie wollen. Mit über 30 befinden wir uns im Umbruch.
Die Endlichkeit unserer Eltern wird uns oft zum ersten Mal bewusst. So lernt auch Nina, dass ihre Beziehung zu ihren Eltern eine andere ist und wird. Unsere Freund*innen werden Eltern, sie verändern sich und Lebensrealitäten verschieben sich. Wie schafft man den Spagat von Mutter zur Freundin, wenn die Kotze des Kindes noch am T-Shirt klebt? Schwierig – für Nina und ihre Freundin, die frischgebackene Mutter ist. Die Akzeptanz, dass Lebensentwürfe unterschiedlich, geradezu individuell sind, wird in diesen Momenten mehr als deutlich. Und jeder Single-Frau wird klar, dass mancher Wunsch nach einem Leben keinem Plan folgt, denn wie eine Familie gründen, wenn der passende Partner fehlt? Also bleibt nur die Suche nach der Liebe zwischen Arbeit, Freund*innen und Herzschmerz.
Das einzige Gute beim Dating über 30: Niemand, wirklich niemand, kann einem mehr alles nehmen. Oder wie Dolly Alderton im Namen von Nina schreibt: „Ich wusste, irgendwann geht es mir wieder gut. Es tut immer noch weh, aber es ist leichter, wenn man mit über Dreißig ein gebrochenes Herz hat, denn man weiß, das geht vorbei. Ich glaube nicht, dass noch einmal ein Mensch in der Lage wäre, mein Leben zu ruinieren.“ Liebeskummer haut einen immer noch um, aber man weiß auch, ich überlebe das, es wird auch wieder gut. Und genau deshalb wagen wir uns als Singles über 30 vielleicht auch immer wieder in diesen wahnsinnigen Dating-Dschungel.
Am Ende lernt Nina in „Gespenster“ vor allem eines: Die Beziehungen, die wir in unserem Leben führen, sei es zu Familie, Freund*innen oder Partner*innen, sind die wichtigsten. Wir müssen uns immer zu 100% auf sie einlassen. Mit ihren Macken, mit ihren liebevollen Seiten und mit ihren Nöten. Und das vor allem im Jetzt. Denn niemand weiß, was morgen ist. Klingt wie ein blöder Kalenderspruch, ist aber wahr. Das Herz muss riskiert werden, immer wieder aufs Neue. Denn: „Liebe ist keine Laune und auch nichts theoretisches. Liebe ist die Verbindung, die man zu einem anderen Menschen fühlt.“
Dolly Aldertons zweites Buch „Gespenster“ ist ein wahres Geschenk für alle, die gerade 30 oder älter sind und daten. Ich kam aus dem Nicken nicht mehr heraus. „Gespenster“ hat meine vergangenen Jahre als Single so wahnsinnig gut zusammengefasst, dass ich manchmal wirklich lachen (oder fast weinen) musste. „Genau so ist es“, dachte ich.
Das Wunderbare: Dolly Alderton schafft es, mit pointierter Sprache und Witz Ninas Geschichte nicht platt, sondern authentisch und echt wirken zu lassen. Es ist kein weiteres „Single-Frauen-Buch“, sondern eine Hommage an die moderne Romantik. Eine wunderbare Geschichte über das Leben mit über 30 in all seinen Facetten.
„Gespenster“ von Dolly Alderton ist im Atlantik-Verlag erschienen.
Hier könnt ihr es kaufen.
– Anzeige wegen Markennennung –
6 Antworten zu “Ghosting und andere Dating-Launen: Warum ich Dolly Aldertons Buch „Gespenster“ mit jeder Faser gefühlt habe”
DANKE für diesen Tipp. Mein Leben exactly.
Man wünschte sich, man könnte noch genauso unbeschwert daten wie in den Zwanzigern, aber bei jedem Typen muss man sich fragen, ob er einer für Kinder wäre, während sich der Mann idR null Gedanken darüber machen muss. Und dann ist man ständig in dem Konflikt, das verbergen zu müssen und locker und unbeschwert rüberzukommen (was mir leider auch nicht so gelingt).
Unbedingt lesen <3
Und ja, die Unbeschwertheit verliert man dann doch ein bisschen in den 30ern. Ich habe tatsächlich irgendwann beschlossen, ich verberge nichts mehr. Ich suche ja in erster Linie einen ebenbürtigen Partner und nicht den Vater meiner Kinder. Aber um auf Augenhöhe zu sein, ist das Thema auch ein wichtiges, dass ich nicht erst nach 28 Dates anspreche. Und ich habe auch zeitnah klare Fronten gefordert, wenn ich wusste, was ich will - wenn es demjenigen zu viel war, dann viel Spaß im Datingdschungel, dann nur ohne mich :) Und so doof es klingt: Wenn der Richtige dasteht, ist nichts zu viel.
Also steh zu dir, deinen Lebensvorstellungen und Zielen. Das gehört zu dir wie der Rest von dir <3
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