Er so sie so: Von Geschlechtern und Rollen
Milenas Antwort auf Nils Artikel „Ladies First“
Lieber Nils,
die Servietten-Situation, das ist so eine Sache. Etwas aufzuheben, das jemand anderem heruntergefallen ist, ist immer eine gute Idee. Genau wie Türenaufhalten oder den Anderen vorzulassen, wenn beide gleichzeitig in die U-Bahn einsteigen wollen. Das ist ein Stück sich selbst zurücknehmen und den Anderen vor die eigenen Bedürfnisse stellen, ein Stück Hilfsbereitschaft, das man jedem entgegenbringen sollte – Männern genauso wie Frauen. Ich sehe das nämlich tatsächlich ganz geschlechtsneutral, denn in einer Servietten-Situation hebe ich das gute Stück gerne für mein Gegenüber auf, egal welches Geschlecht dieses hat. Einfach, weil es nett ist.
Ich weiß natürlich, worauf du hinauswillst. Auf die Situationen, in der sich Männer in ihren imaginären Mercedes Roadster schmeißen, sich den Hut ins Gesicht ziehen und über ihre schwarze Sonnenbrille hinweg das Mädchen am Straßenrand auf einen Drink einladen. Das Mädchen, das sich keinen eigenen Drink kaufen kann und auch keinen Mercedes Roadster und das sich freut, so einem Gentleman begegnet zu sein. Auf die Situationen, in denen der Mann die „klassische Rolle“ einnimmt und die Frau in ihrer ebenso „klassischen Rolle“ landet. Und die Tatsache, dass diese Rollenverteilung nicht erst in Roadster-Situationen aufkommt, sondern schon beim Briefanfang oder Händeschütteln, wie du es aufzählst.
Auf der einen Seite hat das Ganze einen sehr bitteren Geschmack. Über die Geschlechterrollenverteilung von 1950 scheinen wir doch so lange hinweg zu sein. Tatsächlich reagiere ich nicht ganz unvoreingenommen, wenn mir diese Art von Situation begegnet: Neben Männern, die sich auf ihre vermeintliche Männlichkeit berufen, indem sie Frauen zu Mädchen machen, die gerettet werden oder denen die Welt erklärt werden soll, erlebe ich mindestens genauso häufig Frauen, die sich in Anwesenheit von Männern kleiner machen als sie sind. Die von der coolen Socke zum hilflosen Frauchen mutieren, wenn sie sich in Gegenwart von Männern wiederfinden, und die sich ganz offenbar auf genau diese klassische soziale Rollenverteilung berufen, wenn es ums Flirten geht.
Auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass es Situationen gibt, in denen ich die Sache mit der Rollenverteilung anders sehe. In denen es mir gefällt, einen Mann neben mir zu haben, der ganz offensichtlich ein Mann ist und kein geschlechtsneutrales Wesen, und der in gewissen Situationen auch diese Rolle einnimmt. Nachts im Bahnhofsviertel zum Beispiel, wo ich gerne ein Schutzgefühl habe, das mir keine Freundin geben könnte. Beim Einkaufstütenschleppen gelegentlich auch oder beim Herumwerkeln in der Küche, wenn ich mich auf einen Stuhl stellen müsste, um an bestimmte Dinge zu kommen. Bestimmte Größen- und Kraftunterschiede sind eben manchmal einfach da und dem Anderen damit zur Seite zu stehen etwas Schönes. Die Sache ist allerdings die, dass ich einen Mann nur seine Männerrolle einlassen kann, wenn ich mir sicher bin, ihm auf Augenhöhe zu begegnen – und die Voraussetzung dafür ist ganz einfach, ihn zu kennen.
Tatsächlich fühle ich mich unwohl, von einem Fremden auf einen Drink oder zum Essen eingeladen zu werden, in den Mantel geholfen zu bekommen oder vor ihm durch die Tür gehen zu müssen. Ich sehe da einen großen Unterschied in einer Servietten-Situation mit einem Fremden und einem Mann, der mich kennt. Für den Bekannten bin ich jemand, dem er aus Sympathie etwas Gutes tun will, und obendrein noch eine Frau. Für den Fremden bin ich nur eine Frau, und die wird durch eine Servietten-Situation in eine Rolle gedrückt, in der sie vielleicht gar nicht sein will. Manche Frauen mögen die Ladies-First-Behandlung, manche reagieren darauf allergisch – wissen kann man es erst, wenn man diese Frau kennengelernt hat.
Bevor man so weit ist, das einschätzen zu können, plädiere ich für ein Überbordwerfen der Ladies-First-Kiste. Wenn mich ein fremder Mann als Mensch statt als Frau sieht, fühle ich mich weitaus wohler, als sofort die veralteten Geschlechterrollen übergestülpt zu bekommen. Während ein fremder Mann für mich die Rechnung übernehmen will, rückt er meine Persönlichkeit und Lebensumstände völlig in den Hintergrund und stempelt mir ein großes „Frau“ auf die Stirn, das wenig Diversität zulässt. Was, wenn ich gerne arbeite, gerne mein eigenes Geld habe und gerne für mich selbst zahle? Was, wenn ich den Spieß umdrehen und ganz selbstverständlich davon ausgehen würde, er habe weniger Geld als ich, und seine Rechnung übernehmen würde? Was, wenn ich es einfach nur umständlich finde, einen Mantel mit fremder Hilfe anzuziehen?
Es gibt allerdings Situationen, in denen man die Klischees Klischees sein lassen und einfach machen sollte. In der Servietten-Situation zum Beispiel, in der Türaufhalt-Situation oder wenn nur noch ein Schokocroissant in der Auslage liegt. Hier den Anderen vor sich selbst zu stellen bringt gutes Karma – als Frau übrigens genauso wie als Mann.
Bild: Kerstins Kopf for Chaingang/Julia Neumann