Über Fremdbestimmung und die Suche nach Freiheit

11. Januar 2023 von in

Wie frei bist du? Hast du dir diese Frage schon einmal gestellt? Vielleicht nachts im Bett, wenn du eigentlich längst schlafen solltest, und das Gedankenkarusell nicht aufhören will, sich zu drehen. Es spielt dir das private Sorgenkonzert, das sich tagsüber so gut übertönen lässt. Wer nachts nicht träumt und nicht schläft, kann sich nur schwer ablenken. Wenn die Lichter aus sind und das Schlafzimmer erbarmungslos still, lässt es sich so schlecht arbeiten, Kinder erziehen, Familie spielen, Aktivitäten planen, Party machen, Reisen buchen, Filme ansehen, Serien bingen. Man liegt dann herum, die Augen geschlossen und wälzt sich von links nach rechts. Schlaflose Nächte wie diese verstehen sich hervorragend mit inneren Sorgen und Ängsten. Eine große Frage, die mich in solchen Momenten gerne besucht, ist die Frage nach Freiheit. Nicht im Sinne eines Roadtrip Movies, in dem Thelma und Louise in ihrem himmelblauen Oldtimer durch den Wilden Westen fahren, um sich am Patriarchat zu rächen. Auch wenn ich den Film gerne ansehe, meine ich eine andere Freiheit.

Eine leisere Freiheit, liberaler vielleicht und nach innen gerichtet. Freiheit im philosophischen Sinne, Glück und Zufriedenheit, ganz nach der Definition „Ein Zustand, in dem jemand frei von bestimmten persönlichen oder gesellschaftlichen, als Zwang oder Last empfundenen Bindungen oder Verpflichtungen, unabhängig ist und sich in seinen Entscheidungen o.Ä. nicht eingeschränkt fühlt.“, here we go, diese Definition meine ich, die politische Freiheit, die Eigenermächtigung, die Freiheit, das eigene Leben gestalten und darüber entscheiden zu fühlen. Ab dem Zeitpunkt der Volljährigkeit liegt die Verantwortung, wie wir unser Leben gestalten wollen, Schritt für Schritt mehr in unseren Händen.

Die Zwanziger vs. Dreißiger

Die Zwanzigerjahre waren für viele die erste gewonnene Eigenermächtigung, in der man vor diesem riesigen Berg Freiheit steht, der einem nach Schulabschluss und Auszug vor die Füße gelegt wurde: „Hier, viel Spaß mit deiner Eigenverantwortung. Von nun musst du lernen, deine Schritte selbst zu setzen. In welche Richtung es dich treibt.“. Spannend wird es für mich in den Dreißigern, in die ich mich gerade vorsichtig hineinwage. Denn während vor zehn Jahre alle wie Ping-Pong-Bälle irgendwie irgendwas gemacht haben, ohne zu verstehen, was das Leben im Allgemeinen überhaupt soll, so wirken die Dreißigerjahre schon jetzt selbstbewusster, selbstbestimmter und ganz schön durcheinander. Die einen haben ihr erstes Kind, andere studieren wieder, einige outen sich, die nächsten machen Karriere, manche sitzen da und fragen sich, was sie da eigentlich tun in ihrem Leben. Alle gehen unterschiedliche Wege, das spüre ich zum ersten Mal so richtig, seit ich dreißig bin. Die meisten meiner besten Freundinnen sind Mittelschichtskinder. Wir genossen ähnliche Ausbildungen, einen ähnlichen finanziellen Hintergrund und entsprechend ähnliche Ausgangslagen. Sehr grob geschätzt, versteht sich. Und doch könnte die Lebensgestaltung im Durchschnitt meiner Freund*innen unterschiedlicher kaum sein: Über Hochzeitszeremonien, Trennungen, Kinderkriegen, Ersti-Dasein, Bachelorarbeit, Berghain, Drogenexzesse, Lebenskrisen, ist alles dabei.

Ich liebe das Chaos in dieser neuen Lebensepisode, die alles zulässt. Denn so unterschiedlich wir gleichaltrigen Anfang-bis-Mitte-Dreißigjährigen unsere Leben auch gestalten, wir teilen die kollektive Erkenntnis, dass wir verantwortlich für unsere Lebensgestaltung sind. Die Definition der individuellen Vorstellung einer „guten Lebensgestaltung“ könnte dabei jedoch nicht unterschiedlicher ausfallen. Das gefällt mir, auch wenn es manchmal für Reibung sorgt. Vielleicht gerade weil es so durchmischt ist. Die eine Freundin erzählt von ihrer Verzweiflung an der neuen Mamarolle, während die andere parallel dazu in ihrer Karriere als DJ aufgeht.

Das eigene Leben steuern

Der grobe Kurs, den wir ansteuern, liegt in unseren Händen. Das allgemeine Treibenlassen fällt allen irgendwie immer schwerer, da es langsam bei allen durchsickert: „Fuck, da drüben ist ja ein Steuer. Das habe ich die letzten 30 Jahre völlig ignoriert.“, und da steuern sie herum, die orientierungslosen Boote, die reihum anfangen, bewusste Entscheidungen für sich und ihr Leben zu treffen – and I love it. Das Steuer in die Hand zu nehmen bedeutet, sich von Zwängen zu lösen, von Lasten zu befreien, sich abzugrenzen und neue Dinge ins Leben zu lassen. Für mich ist das nicht nur die Definition von Erwachsensein, es ist die Definition von innerer Freiheit. Mir die Fragen zu stellen, was ich gerade vom Leben will und die mir möglichen Ressourcen zu nutzen, um es mir zu ermöglichen. Eine schmerzhafte Entscheidung musste ich treffen, um mir die Frage selbst zu beantworten. Die Entscheidung, amazed zu verlassen. Ohne Streit, nur mit der Erkenntnis, die da war: Ich fühle keine Freiheit mehr, ich fühle mich erdrückt. Ich fühle mich fremdbestimmt.

Sich das einzugestehen tut weh, doch so ist es mit den ganz erwachsenen Entscheidungen, die manchmal schmerzhaft sind, doch für innere Freiheit sorgen, für Wachstum, Weiterentwicklung und das Gefühl, das eigene Leben in der Hand zu haben. Das Gefühl der Stagnation, der Einengung, der Fremdbestimmtheit, dass möglicherweise viele Menschen neben mir ebenso kennen, das lässt sich jedoch nur selten mit einer Weltreise, einem schönen Urlaub, einer Anmeldung zum Fitnesscenter oder einer gesünderen Ernährung, wegwünschen in Form von Neujahrsvorsätzen. Das glaube ich zumindest. Auf die Unzufriedenheiten lohnt es sich, einen genaueren Blick zu werfen: Muss ich etwas in meinem Leben ändern, auch wenn es weh tut? Sollte ich mein eigenes Leben in eine andere Richtung steuern, auch wenn ich Angst davor habe?

Spoiler: 2023 wird vermutlich nicht dein Jahr

Symbolisch zum Neujahrswechsel sehnen wir uns so häufig nach dieser einschneidenden Veränderung, die endlich alles gut macht. „2023 wird mein Jahr“. Dabei haben wir das ganze Jahr und die Jahre darauf Zeit, uns zu entwickeln. Das eigene Leben zu steuern. Gute Ideen für Vorsätze für sich selbst, in diesem Jahr und alle darauf: Sich vorzunehmen, Ängste und Unsicherheiten zu überwinden, die eigenen Ressourcen zu nutzen, und sich stets daran zu erinnern, dass man die Richtung des eigenen Lebens wenigstens etwas lenken kann. Natürlich nur marginal, denn das Leben macht schon auch, was es will, ohne uns zu fragen. In diesem Sinne: Happy New Year an alle, auf dass ihr Entscheidungen für euch selbst trefft, statt euch fremdbestimmt von links nach rechts schubsen zu lassen. Euer Neujahrsengel (gibt es den?), Amelie.

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Eine Antwort zu “Über Fremdbestimmung und die Suche nach Freiheit”

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