Es reicht: Übers Grenzen ziehen in Freundschaften
Im Herbst kehre ich für eine Weile nach Berlin zurück, und viele aus meinem sozialen Umfeld begrüßen die Entscheidung, da ich nun räumlich deutlich näher sei. Die letzten zwei Jahren war ich meist nicht da und ohne festes soziales Umfeld. Immer wieder bin ich zwar in Deutschland gewesen und bei jedem Mal hat sich der Eindruck verstärkt, nichts hätte sich verändert. Doch alles verändert sich immer, und so auch die Menschen um mich herum.
Viele haben aufgehört, mit mir zu planen. Sie gehen davon aus, dass ich bald wieder weg sei, und ehrlich gesagt verstehe ich das auch. In der begrenzten Zeit, in der ich stets da war, ging es immer darum sich upzudaten, sich mal wieder zu sehen. Und daher sind mir viele Dinge auch einfach nicht mehr aufgefallen. Ich hatte nicht genug Zeit, um zu erkennen, wie sich manche Freundschaften wirklich entwickelt haben, in welchen Bahnen sie noch nach zum Teil über einem Jahrzehnt verlaufen.
Meine Freund:innen haben oft ein Herz geheilt, dass sie nicht gebrochen haben. Wenn ich mal wieder bei einer gestrandet bin, weil mein Kopf so voll und mein Leben zugleich so leer war, wurde ich aufgefangen.
Als ich anfing, immer wieder auszubrechen, wurden manche Kontakte sehr dünn und zwangsläufig habe ich sehr viel mit mir selbst ausgemacht. „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, ist schnell gesagt, aber gar nicht mal so gut gelebt. Die Ebene zwischen man hört sich einmal im Monat und jeden Tag Akut-Telefonate hat mir oft gefehlt. Einige sind geblieben – wir haben die langen Distanzen gut überwunden und immer wieder aufs Neue daran gearbeitet, nah zu sein, und sei es über unsere kleinen Chatfenster.
Von einigen Freundschaften habe ich mich aber auch verabschiedet, sie an die Seite gepackt. Bei manchen weiß ich nicht, ob sie wieder aufleben werden, bei anderen sind ganz neue Wege und Konzepte entstanden. Mit vielen bin ich jetzt näher als zuvor und bei anderen wiederum, bei denen ich mir sehr sicher war, bleibt gerade nicht so viel, auf das ich bauen könnte.
Das liegt auch daran, dass ich begonnen habe, Grenzen zu ziehen. Und zwar so, wie ich es auch oft in romantischen Beziehungen tue und getan habe. Das klingt jetzt ärger als es ist, aber hear me out: Die meisten wissen, dass Grenzen zu ziehen wichtig ist, ebenso wie Nein zu sagen. Viele schlaue Sprüche untermauern diese Vorhaben, vergessen aber einen signifikanten Part: Dann fängt die Arbeit – zumindest in interpersonellen Beziehungen – erst an.
Wie reagiert mein Gegenüber, wenn ich klarmache, was mich verletzt, was für mich wichtig ist und wie ich mir – in diesem Fall – eine Freundschaft wünsche? Fängt ein Gefecht an Argumenten und einem gegenseitigen Aufwiegen von Fehlern an? Oder entsteht eine Atmosphäre des Annehmens mit einem gemeinsamen Vorhaben, beide Seiten gleichermaßen anzuhören und entsprechend zu justieren, wo es für eine Seite oder gar beide schmerzt?
Ich weiß, dass ich Menschen in meinem Leben priorisieren kann und möchte.
Wenn ich das nicht zurückbekomme, dann ist es Zeit, entweder etwas daran aktiv zu ändern oder Raum für neue Verbindungen zu geben: Es gibt Personen, die auch mich priorisieren, die Lust auf mich haben und für die ich keine Verpflichtung bin. Darum geht es meiner Einschätzung nach zu oft: Wenn sich eine Verbindung nach etwas anfühlt, dass man machen muss, nur weil es schon immer oder lange so war, dann entstehen oftmals auch mehr Diskrepanzen.
Auch ich war auf der anderen Seite: Vor einigen Jahren hat eine ehemalige Freundin eine Grenze gezogen und obwohl ich heute sehe, dass die Freundschaft ihr Ablaufdatum hatte, tat es weh zu hören, wie sie mein Verhalten zu verletzen schien. Eine Hand zu reichen, hat ihr letztlich nicht mehr gereicht. Und auch das war dann ok, denn Personen, die nicht arbeiten möchten – an sich und an der Verbindung – sind keine, die ich gerne eng um mich habe. Natürlich soll nicht immer alles Arbeit sein, darum geht es mir nicht. In Krisenmomenten, an Knackpunkten – an jenen soll gearbeitet werden.
Meine Mutter sagte oft zu mir, Freundschaften soll man pflegen, denn irgendwann steht man alleine da. Sie hat recht, aber es kann auch richtig sein, Leute ziehen zu lassen und damit neue Potenziale freizulegen. Ich habe mich noch nie von einem Freundeskreis abhängig gemacht, oft habe ich andere darum beneidet, aber auch häufig beobachtet, wie gefangen und unselbstständig einzelne darin sein können. Wenn ich immer darauf gewartet hätte, dass ich etwas mit Freund:innen unternehmen kann, hätte ich nie so viel Schönes erlebt und unterwegs so viele tolle Personen getroffen.
Eine Grenze zu ziehen bedeutet nicht zwangsläufig, alles auszuzäunen, sondern es kann auch heißen, ein anderes Maß anzulegen.
Eines, das nicht statisch ist, sondern fähig ist, sich flexibel an die Freundschaftsdynamik anzupassen. Grenzen zu ziehen ist auch wichtig, um den eigenen Standpunkt neu auszumessen und offen zu markieren, wo man heute steht. Nur so kann das eigene Umfeld erkennen, ob ihnen der Grundriss noch gefällt. Jede Grenze, die ich gezogen habe, hat mich Stück für Stück dahin gebracht, wo ich mich nun sicher und gesehen fühle.
Das Alter zollt ihren Tribut, viele haben inzwischen andere Rollen angenommen als jene, die sie hatten, als wir uns kennenlernten. Damit geht auch einher, dass eine Freundschaft neu ‚vermessen‘ werden muss. Wenn so viel anderes im eigenen Leben passiert, nimmt man viele Verbindungen eventuell für selbstverständlich. Eine Grundvoraussetzung ist, dass beiden Seiten daran gelegen ist, ein Format zu führen, das für alle Beteiligten gut ist. Und in dem Grenzen ziehen kein Problem darstellt. Oft hatte ich Angst, dass Freund:innen, die Eltern wurden, plötzlich in ihrer Familienbubble versinken, tatsächlich hat das neue Familienmitglied keinen Abbruch an unserer Verbindung getan – im Gegenteil: Mit ihnen wurde ich noch enger als zuvor, wir sprechen offener und obwohl unser Alltag verschieden ist, sind wir füreinander da.