Goodbye Elternhaus: Dieses Haus war 34 Jahre mein Zufluchtsort. Wie kann man den Abschied vorbereiten?
Dr. Hanna Kuschel ist 34 und lebt in München. Sie ist Psychologin und angehende Paar- und Familientherapeutin. Getreu der Positiven Psychologie interessiert sie sich vor allem dafür, was uns im Leben stark macht. Für sie ist das: Klarheit über die eigenen Prägungen der Herkunft(-sfamilie), Klarheit über die eigenen Werte, Humor, Kreativität und Vertrauen. Und funktionierende Beziehungen, süße Tiere und schöne Klamotten. Mehr zu Hanna findet ihr auf Instagram unter @kuschelhanna.
Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich sofort an unseren riesigen Garten. Wild und verwunschen. Hier darf wachsen, was will. Natur pur.
Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich an die Zufahrt zum Haus. Über Hubbel und Schlaglöcher führt sie hinunter ins Tal, vorbei an Wiesen und Kühen, bis das Fachwerkhaus zur Rechten zu sehen ist. Bei Schnee und Eis eine einzige Rutschpartie. Vielen Besuchern wurde das zum Verhängnis: Dein Auto? Müssen wir jetzt hochschieben.
Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich daran, dass Nachhausekommen schön ist. Dass es wie Pausetaste-Drücken ist. Alles wie immer, hier steht die Zeit still. Mariaweiß-Geschirr auf dem Tisch, Tee ist warm, wie war die Fahrt? Erstmal in den Kühlschrank gucken.
Dieses Haus, mein Elternhaus, liebe ich über alles. Und davon möchte ich mich verabschieden. Offiziell gibt es dafür keinen Grund: Meine Eltern wohnen drin, ich bin regelmäßig zu Besuch, von Abschied keine Rede.
Und doch glaube ich, dass meine Eltern dort nicht ewig wohnen werden. Oder können: Meine Mutter ist 78 Jahre alt, mein Vater 73. „Die Wehwehchen nehmen zu“, würde ich gerne schreiben, aber das ist untertrieben. 140 Quadratmeter Wohnfläche und 2500 Quadratmeter Garten pflegen sich nicht von alleine. Mein Bruder Ben muss Teile des Gartens mit der Sense mähen, so steil ist er (also der Garten). Dass meine Eltern den ganzen Platz schon lange nicht mehr brauchen, steht auf einem anderen Blatt.
Was meine Eltern dazu sagen, dass ich einen Artikel über den Abschied von unserem Familienhaus schreibe? Sie wissen es nicht. Ihre Reaktion wäre wahrscheinlich: Abschied? Wieso denn Abschied? Wir bleiben hier, so lange wie’s geht. Dass sie keinen Bedarf für Abschied sehen, ist okay. Das ist ihre Realität. Viele Eltern verpassen den rechtzeitigen Absprung aus dem Familienhaus und werden irgendwann durch äußere Umstände, Notfall, Kurzzeitpflege, aus ihrem Umfeld gerissen.
Viele Eltern verpassen den rechtzeitigen Absprung aus dem Familienhaus und werden irgendwann durch äußere Umstände, Notfall, Kurzzeitpflege, aus ihrem Umfeld gerissen.
Dass ich hingegen Bedarf für Abschied sehe, ist meine Realität. In meinem Freundeskreis wurden schon zwei Elternhäuser verabschiedet – und ich will vorbereitet sein. Dieses Haus ist schließlich auch mein Zuhause. Es beheimatet so viel: Hier hab‘ ich laufen gelernt und mit meinen Brüdern Weihnachtsbäume geschmückt, hier hab ich als Teenie in den Vorgarten gespien und hierhin bin ich nach meiner Trennung geflüchtet. Mein Kinderzimmer gibt es noch, es ist das einzige. Da steht immer noch mein Carpe Diem an der Wand mit den hübschen, monochromen Wandbuchstaben vom Impressionen-Shop. Wenn dieses Haus weggeht, dann geht auch ein Stück von mir weg. Meine Eltern und ich, wir, müssen uns über den Zeitpunkt des Abschieds also nicht einig sein. Das hier ist meine Perspektive.
Die Psychologie des Elternhaus-Verabschiedens
Ein Abschiedsprozess dauert ungefähr zwei Jahre, sagen Psychologen. Nach zwei Jahren hat man realisiert, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da ist. Gilt das auch fürs Abschiednehmen vom Elternhaus? Zwei Jahre nochmal bewusst erleben, und dann: „Jap, fertig, losgelassen, bitte nehmen Sie dieses Haus!“ sagen?
Kaum etwas symbolisiert Sicherheit und Geborgenheit so stark wie das Haus der eigenen Kindheit. Ein Nest, das immer offensteht, 24/7, 365 Tage im Jahr. Ein Ort, in dem Menschen geformt werden. Will man seinem Kind einen Gefallen tun – ihm zum Beispiel ein stabiles psychisches Grundgerüst fürs Leben mitgeben – so ist es das Beste, was man tun kann: ein beständiges, warmes Zuhause schaffen. Ob Haus oder Wohnung ist dabei ganz egal.
Muss man diesen Ort aufgeben, signalisiert das: Kindheit vorbei.
Dann ist es Zeit, die alten Schulhefte wegzuschmeißen. Das Gefühl des Abschieds sagt: In Zukunft kannst du nicht mehr „einfach so“ Unterschlupf finden, du musst auf eigenen Beinen stehen. Wenn ich das so schreibe, berührt mich das seltsam wenig, auf eigenen Beinen stehe ich ja eh schon. Es heißt aber auch: Wenn ich in Zukunft nach Hause fahre, werde ich diesen Ort nicht mehr sehen. Ich bin zwar in der Heimatstadt, schlafe aber woanders. Ich kann zwar zum Haus gehen, es aber nicht mehr betreten. Die Schachtel, die meine Erinnerungen zusammengehalten hat, sie ist dann weg. Was hält denn dann meine Erinnerungen zusammen?
Und da schwingt auch mit: Lebenszeit begrenzt, Mama und Papa sind nicht unsterblich. Das Fundament, es schwankt.
Gibt es noch etwas, das ich klären will? Welchen Auftrag hat mir dieses Elternhaus mitgegeben? Habe ich diesen Auftrag erfüllt – oder will ich mich davon lösen? Nicht umsonst steht der Begriff Elternhaus auch synonym für die Familie mit ihrem prägenden, erzieherischen Einfluss. Das Elternhaus-Verabschieden als finaler Schritt der Abnabelung von Zuhause. Die Herkunft loslassen. Der einzige Weg, der nun bleibt, ist der Blick nach vorne, das Hinwenden zur eigenen Zukunft. Trennungsschmerz. Wachstumsschmerz.
Den Abschied vorbereiten
Seit ungefähr anderthalb Jahren denke ich, dass ich mich so langsam verabschieden sollte. Davor hatte ich die Idee verworfen, ein Tiny House in den Garten meiner Eltern zu setzen. Das wäre nett, solange meine Eltern im Haupthaus nebenan wohnen. Aber sobald Fremde vor meiner Tiny-House-Terrasse grillen, fühlt es sich nicht mehr richtig an.
Seitdem versuche ich, jeden Wechsel der Jahreszeiten bewusst zu erleben. Der Frühling kommt? Mit ihm der Bärlauch neben dem Komposthaufen. Sommer heißt: Yoga in der Morgensonne mit Blick in den Wald. Der Herbst bringt Kiwis überm Hasenstall. Winter: Hoffentlich kein Schnee.
Ich gehe mit offenerem Blick durchs Haus. Entdecke es, als würde ich es zum ersten Mal betreten. Hing dieses Bild schon immer da? Weshalb haben meine Eltern es angeschafft? Was verbinden sie damit?
Manchmal komme ich direkt dazu, zu fragen, dann werden sie ganz nostalgisch. Oft finde ich auf diesen Touren eine Kleinigkeit, die ich unbemerkt in meine Stadtwohnung mitnehme: eine Saftkaraffe hier, eine versilberte Zuckerschale dort. Ein Stückchen Herkunft, das ich mit in meine Zukunft nehme.
Auf meinem Handy habe ich einen Ordner, der „Heimkommen“ heißt. Hierhin verschiebe ich Fotos, die ich schön finde und die mich sentimental stimmen: der Garten in saftigem Grün, Johannisbeer-Baiser-Kuchen auf Silbertablett neben Mudsch; mein Vater, der Hecke schneidet. Ein Familien-Fotoshooting habe ich aus dem Studio in den Garten verlegt. Nochmal für Verewigung sorgen, für das Haus und alle, die dazugehören. Eines Tages sind die Fotos mein einziges Rückfahrticket in die Zeit von damals, als noch alles gut war. Mein Vater hat sich vor dem Haus malen lassen. Gut gelaunt, mit ausgestrecktem Daumen.
Was ich noch machen will: Mir einen Ort auf neutralem Gelände suchen, von dem aus ich mein Elternhaus gut im Blick habe. Einen Ort, den ich besuchen kann, wenn dieses Haus nicht mehr uns gehört, ich nicht mehr hineingehen kann, mich aber nahe fühlen will. Einen Ort, den ich vorher noch emotional aufladen kann, vielleicht steht daneben ein Baum, in den ich ritze: „Hier sitzt Hanna, die auf ihr Elternhaus blickt und wünschte, sie könnte die Zeit anhalten.“
9 Antworten zu “Goodbye Elternhaus: Dieses Haus war 34 Jahre mein Zufluchtsort. Wie kann man den Abschied vorbereiten?”
Hier noch ein Literaturtipp für alle, die sich weiter mit dem Thema befassen wollen: Das Haus meiner Eltern hat viele Räume von Ursula Ott. Darin geht es aber eher ums Ausräumen, Entrümpeln und die Emotionen und Konflikte, die damit einhergehen. Und es adressiert auch eher die Generation unserer Eltern (im Sinne von: Wenn sie das Haus ihrer Kriegsgenerationeltern ausräumen), beinhaltet aber trotzdem viele wertvolle Gedanken und Tipps.
Obwohl ich fast gleich alt wie die Autorin bin, kann ich diesen Text nicht gut nachvollziehen. Meine Eltern sind fast 20 Jahre jünger als hier beschrieben. Wir haben in verschiedenen Wohnungen gewohnt, mit denen ich natürlich auch schöne Kindheitserinnerungen verbinde. Nachdem ich ausgezogen bin, sind meine Eltern noch einmal umgezogen. Ich habe ehrlich gesagt nie lange drüber nachgedacht. Ich denke ich bin vor allem dadurch in einer unsichereren Situation, da ich fast nichts erben werde.
Hallo! Nach dem Tod meiner Eltern hat meine Schwester unser Elternhaus übernommen. Ich kann jederzeit nach „Hause“ gehen. Aber es ist nicht mehr das HEIMKOMMEN, wie es früher war. Und das tut weh…..
Hallo @Daria, vielen Dank, dass du deine Reaktion auf den Text teilst. Ich finde, das ist eine interessante Perspektive, die mich auch nochmal zum Nachdenken gebracht hat. Zwei Gedanken kommen mir dazu:
1) Dass Veränderung bei euch in der Familie wohl schon etablierter war und vielleicht auch normaler, dass man sich mit ändernden Lebenssituationen auch räumlich verändert? Dass durch die kürzeren Zeiträume in den verschiedenen Wohnungen nicht so viel Emotionalität auf ein einzelnes „Zuhause“ geladen wurde?
2) Du schreibst, dass deine Eltern fast 20 Jahre jünger sind, also müssten sie Mitte/Ende 50 sein. Eine Annahme von mir wäre jetzt, dass sie vielleicht noch recht fit und vital sind?
Mir kam nämlich auch der Gedanke, dass wenn man sieht, wie die Eltern gebrechlicher werden, ganz viel auf das Elternhaus projiziert wird, dass das Elternhaus quasi für die „guten alten Zeiten“ steht, die es nun nicht mehr in der Form gibt…
Ich finde es aber grundsätzlich interessant, das Thema Wohnen und Lebensraum eher lebensphasenorientiert zu betrachten und eben in dem Zuhause zu wohnen, das für die aktuelle Lebensphase (alleinstehend, mit Kindern, in Rente) am passendsten ist.
@Petra: Danke, dass du das mit uns teilst. Ja, das kann ich verstehen! Wenn der Hausherr/die Hausdame wechselt, und sei es auch nur innerhalb der Familie, verändert sich halt doch irgendwas im Gefühl.. Man ist eben eher zu Gast und nicht Zuhause. Ich wünsche dir viel Kraft fürs Abschiednehmen!
Danke für diesen Text! Mein Elternhaus wurde gerade verkauft und auch wenn meine Kindheit sehr belastet und schwierig war, tut es irgendwie ziemlich weh. Es ist, als würe einem ein Stück Wurzel entfernt werden – das Wachsen geht auch so weiter, aber gerade am Anfang spürt man, dass etwas aufeinmal nicht mehr da ist.
Hallo, ich habe auf der Suche nach Impulsen zum Abschied nehmen den Artikel gefunden. Wir haben seit Anfang des Jahres unser Elternhaus erst aufgeräumt für Fotos und Makler, dann Schränke leergeräumt und viele Erinnerungen geteilt, gelacht, geweint, geschwitzt und uns geärgert – denn unsere Eltern haben den Schritt verpasst es selbst zu tun, beide sind nun fast ein Jahr im Heim. Auch noch in verschiedenen da unser Vater dement ist…es ist alles nicht leicht gewesen und morgen ist der Tag, an dem wir zum letzten Mal reingehen werden. Ab Montag kommt der Entrümpler…den wir uns gönnen, da es unfassbar viel Kraft kostet innerlich und körperlich.
Ich habe jetzt noch einmal die Idee bekommen morgen an diese schönen Momente zu denken, dem Haus zu danken. Es wird für unsere Mutter am heftigsten morgen denke ich…
Und ich bin dennoch auch erleichtert. Das Haus trägt auch viele schwere und unschöne Erinnerungen in sich. Ich werde morgen noch etwas im Garten vergraben und dort lassen. Und ein Abschiedsfoto von uns allen dort finde ich auch gut. Durch die Räume gehen und noch einmal hinspüren an meine Party vom 18. Geburtstag denken und an die Überraschungsband die gespielt hat….an glückliche und traurige Momente und mir darüber klar sein alles was das Haus an Erinnerungen in sich trägt hat mich geprägt und zu der gemacht die ich bin….auch wenn ich mich ständig weiterentwickele, meine Wurzeln sind zum Teil dort geprägt….und es hat ja auch etwas entlastendes wenn es den Ort für mich nicht mehr gibt und dort eine neue äira beginnt….
Danke für deine Inspiration…
Danke für den schönen Artikel.
Meine Mutter ist letztes Jahr im Februar verstorben. Mein Elternhaus mit Garten hat sie gepflegt und geliebt, musste allerdings die üppige Rosenpracht aufgrund ihres Alters immer mehr reduzieren….immer ein kleiner Abschiedsschmerz auf Raten für sie.
Seit einem Jahr steht das Haus nun zum Verkauf und ich erlebe dabei eine Achterbahn an Gefühlen. Es gab viele Interessenten. Das Haus ist natürlich nicht auf dem optimalen Stand, was Heizung etc. betrifft, doch optisch ist es das schönste in der Nachbarschaft. Vielen Interessenten war der idyllische Ort im Pfälzer Wald zu weit entfernt von der nächsten Stadt (20 km) oder der Kaufpreis von 250 000 € mit 2000qm- Grundstück zu hoch.
Ich habe hierzu unterschiedliche Gefühle. Meine Eltern haben sehr viel Zeit, Geld und Lebenskraft in dieses Haus investiert, deshalb will ich es nicht billigst verscherbeln. Andererseits ruft das Haus “ Kümmere dich um mich“ ….so dass es viel Verantwortung , Aufwand und Kosten bedeutet, es weiterhin zu unterhalten. In diesem Zwiespalt befinde ich mich. Emotional bin ich froh, dass es noch da ist und somit die Präsenz an meine Mutter, andererseits belastet mich die Fürsorge um das Haus, da ich selbst 160 km davon entfernt wohne.
[…] weil in allen Herzblut steckt, und ich mich mit jedem Artikel auf eine Art rausgewagt habe. In „Abschied vom Elternhaus“ habe ich exploriert, warum der antizipierte Abschied vom Familienhaus eigentlich so traurig macht […]
Liebe Hanna,
ich habe deinen Artikel vom Abschied vom Elternhaus gelesen, er hat mich sehr berührt und mir steht dieser endgültige Schritt morgen bevor. Ich übergebe es sie wie ich es ausgeräumt und den Kaufvertrag unterschrieben habe alleine. Ohne meine Geschwister. Unsere Mama habe ich vor drei Jahren in meiner Nähe in einem sehr guten Pflegeheim untergebracht 4 Monate nach dem Tod unseres Papas. Erst war es nur für kurz gedacht, leider konnte sie in ihrem Zustand nicht alleine im dem großen Haus bleiben. Die Räumung des Hauses war sehr tränenreich, sehr emotional, sehr alleine und hat sehr wehgetan. Ich habe zwei Jahre dafür gebraucht und es war ein Wechselbad der Gefühle. Viele Erinnerungen sind gekommen und gegangen und viele Fragen auf die ich nie ein Antwort bekommen habe und nie mehr bekommen werde.