Eldest Daughter Syndrome: Wie mich die Rolle der ältesten Schwester bis heute beeinflusst

17. Mai 2023 von in

Aylin Arkaç ist 34 Jahre alt und lebt zusammen mit ihrem Mann in London. Sie liest so ziemlich alles, was sie in die Hände kriegt, am allerliebsten über die Themen intersektionaler Feminismus, Anti-Rassismus, Gender & Sexualität, Disability und Lohnarbeit. Unter Inspiration Information schreibt sie einen Newsletter, der in ihre Perspektive als bisexuelle, muslimische working-class WOC eintaucht. Mehr zu Aylin findet ihr auf Instagram unter @aylinarkac – heute spricht sie darüber, wie die Rolle der ältesten Schwester sie bis heute beeinflusst.

Schon sehr früh musste ich sehr viel Verantwortung übernehmen – weil ich die älteste Tochter meiner Eltern bin.  „Eldest-Daughter-Syndrome“ nennt sich dieses Phänomen heute auf TikTok. Seitdem mir die Videos dazu in den Feed gespült werden, sehe ich meine Kindheit nochmal mit ganz anderen Augen – und verstehe, wie die Erwartungen an mich als älteste Tochter nicht nur meine Kindheit, sondern mein ganzes Leben beeinflusst haben.

Mit nur acht Jahren habe ich bereits für mich und meine jüngere Schwester gekocht, Hausarbeiten wie Aufräumen und Putzen erledigt, oder aber auch meine eigenen Arzttermine gebucht und anschließend ohne Begleitung wahrgenommen. Eine andere Wahl hatte ich nicht, beide meiner Eltern mussten Vollzeit arbeiten. Mit elf Jahren habe ich dann meinen ersten unbezahlten Job angenommen: die Tagesmutter meines neugeborenen Bruders zu sein. Ganz selbstverständlich, und während ich selbst noch zur Schule ging. Als älteste Tochter der Familie bekam ich die Rolle zugewiesen, der verlängerte Arm meiner berufstätigen Mutter zu werden und somit während ihrer Abwesenheit, ihre tägliche Care-Arbeit zu übernehmen.

 

Being the eldest daughter really feels like being an unpaid intern version of young mother sometimes you know

— Bolu Babalola 🍯&🌶 (@BeeBabs) June 27, 2017

Auf TikTok hat sich dazu der Begriff “Eldest-Daughter-Syndrome” geformt: die inoffizielle, unbezahlte Rolle, die Frauen von klein auf aufgebürdet wird, weil nur sie angeblich über die emotionale Intelligenz verfügen, die Familiendynamik mit ihrer Fürsorge und ihrem Pflichtbewusstsein aufrechtzuerhalten.

@kai.mer Repeat with me: “I will go to therapy” #desi #therapy #parents #motivation #daughter ♬ original sound – Kai

Eine fast unmögliche Aufgabe, vielmehr eine Bürde für ein achtjähriges Mädchen. Und dennoch die Realität vieler erstgeborener Töchter. Das beweisen die unzähligen Videos auf TikTok, bei dem unter dem Hashtag #EldestDaughterSyndrome viele junge Frauen von ihren eigenen Erfahrungen erzählen. In fast allen Videos konnte ich mich wiederfinden.
Das Amt der ältesten Tochter inne zu haben, der damit zusammenhängende Druck, schneller erwachsen werden zu müssen und die Verantwortung für Haushalt und Familienmitglieder von klein auf zu tragen, ist nicht ohne und hat Folgen. Im Erwachsenenalter kann diese Erfahrung sogar zu Angststörungen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen führen.

Und dennoch, die ältesten Töchter übernehmen, ohne sich zu beklagen, denn sie müssen. Sie kennen es nicht anders, wenn es von ihnen in der Familie automatisch erwartet wird.

Älteste Tochter = Brave Tochter

Doch dabei bleibt es oft nicht. Auch hohe Erwartungen an das Verhalten, Auftreten und das Benehmen ältester Töchter wird ein großer Fokus gelegt – insbesondere bei Migrantenfamilien. Denn die Sprachbarriere fügt noch eine weitere Verantwortungs-Ebene hinzu. Und die Eltern erwarten, ihr Leben in einem fremden Land mit Hilfe ihrer Erstgeborenen zu navigieren. So werden nicht selten Beamtenbriefe von Kindern übersetzt, oder die Eltern zu Elternsprechtagen als Übersetzerin begleitet. Dieses Phänomen nennt sich „parentificiation”. Dabei wird das Kind zum Fürsorger und gibt den eigenen Eltern den emotionalen und zweckgemäßen Support, den es selbst eigentlich bekommen sollte.

 

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In meiner Kultur hat Familie höchste Priorität. Von mir wurde also erwartet, stets die brave “türkische Tochter” zu sein, was unter anderem hieß, nicht mit Jungs zu reden oder abends nicht mit Freundinnen ausgehen zu dürfen. Denn ich musste meiner Rolle der konservativen und stets hilfsbereiten “Abla” – türkisch für „ältere Schwester“ – gerecht werden und somit den Jüngeren in der Familie als Vorbild dienen. Von Ablas wird außerdem erwartet, dass sie die Familienwerte halten und ihre Geschwister leiten.

Als zweitgeborene Enkeltochter in der Familie, war ich nicht nur die Abla meiner Geschwister, sondern auch meiner neun jüngeren Cousinen und Cousins, die nach mir kamen. Mir wurde vermittelt, dass alle zu mir aufschauten und ich deswegen perfekt sein müsse, weil ich das Rollenvorbild in der Familie bin. Von meinem Cousin, dem erstgeborenen Kind der Familie, einem Jungen, wurde das nicht verlangt.

Auf subtile Weise wurden mir bestimmte Dinge verboten, die meine jüngeren Geschwister durften. Während mein Bruder zum Abendessen nur am Tisch erscheinen brauchte, musste ich vorher meiner Mutter beim Kochen helfen und den Tisch decken. Was bei mir immer ein Nein war, wurde bei meinen Geschwistern immer mehr zu einem Ja. Während ich in ständiger Sorge war, die „brave Tochter” sein und tun zu müssen, was von mir verlangt wurde, färbte meine Schwester ihre Haare wie sie wollte und ließ sich tätowieren. Was in meinem Fall katastrophale Familienkrisen nach sich gezogen hätte. Bis heute gelten für mich andere Standards als für meine Geschwister.

Schon als Kind wusste ich jedoch, meine Eltern haben es als die zweite Generation türkischer Migranten nicht einfach in Deutschland, also wollte ich sie keinesfalls zusätzlich belasten. Je besser ich mich also den Umständen anpasste, umso besser. Im Gegensatz zu meinen jüngeren Geschwistern musste ich mit Abschieden durch Umzüge, neuen Situationen, Identitätskrisen und dem Clash beider Kulturen umgehen, alleine und ohne die Hilfe einer älteren Schwester oder gar meiner Eltern.

Dabei scheint das „Eldest-Daughter-Syndrome“ ganz besonders stark in Migrantenfamilien aufzutreten. Wenn ich an meine Kindheit und die Teenage-Jahre zurückdenke, wird mir klar, dass ich im Vergleich zu meinen weiß-deutschen bzw. nicht-migrantischen Freundinnen kaum Kind sein durfte und meine Jugend wirklich anders verlief als ihre.

 

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Wie es mir heute geht

Heute, mit 33 Jahren, bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich mich glücklicher, stärker und selbstsicherer als je zuvor fühle. Ich bin stolz, als erste in meiner Familie dysfunktionale Muster zu brechen und mir ein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen aufzubauen.

Ich habe nie ganz aufgehört, “älteste Schwester” zu sein. Ich übernehme immer noch freiwillig Verantwortung, organisiere gerne Dinge und stelle stets sicher, dass jeder weiß, dass auf mich immer Verlass ist – egal ob im Freundeskreis oder auf der Arbeit. Gleichzeitig bin ich selber aber hyper-unabhänging, bitte andere ungern um Hilfe und bin ein Profi darin, die Bedürfnisse anderer über meinen eigenen zu stellen – was ganz klar ein aus meinen Kindheitserfahrungen resultierendes Verhalten ist. Außerdem neige ich zu people-pleasing, da ich – so scheint es – noch immer die Anerkennung meiner Familie suche.

Diese Verhaltensmuster erkenne ich mittlerweile und arbeite daran, sie zu ändern. Ich versuche, klare Grenzen zu setzen und auch mal Nein zu sagen. Außerdem erinnere ich mich immer wieder daran, dass ich niemanden retten oder reparieren muss – weder meine jüngeren Geschwister, noch sonst jemanden -, und dass jeder seine essentiellen life skills selbst erlernen muss.

Manchmal fühle ich mich auch schuldig, als hätte ich meine Geschwister oder meine Eltern im Stich gelassen, indem ich meinen eigenen Weg gehe, den zuvor niemand aus meiner Familie gegangen ist, in ein anderes Land ausgewandert bin und mich distanziert habe.

 

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Wenn ich heute über mich als „Eldest Daughter“ nachdenke, kommen mir ein paar Sätze, die meine Kindheit verändert hätten, hätte sie mir jemand gesagt:

1) Du wirst geschätzt und verdienst genauso wie alle anderen nur das Beste.
2) Es ist absolut okay und nicht egoistisch, dich auch mal um dich selbst zu kümmern.
3) Mag sein, dass viele Menschen auf dich angewiesen sind, aber du kannst nicht alle Probleme lösen. Sie werden es auch ohne dich hinbekommen.

Auch, wenn ich mich immer gerne um meine Familie gekümmert habe, empfinde ich deswegen trotzdem immer wieder einen gewissen Groll, denn meine Erfahrungen ließen mich sehr einsam fühlen. So aufzuwachsen war alles andere als einfach, doch ich bin froh, heute alles aus der Ferne reflektieren und einordnen zu können. Auf dem Weg zu sein, auf dem ich gerade bin. Und meine bestärkenden Sätze heute einfach immer wieder zu mir selbst zu sagen.

 

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