„Eine wichtige Lektion“: Warum gute Streitgespräche (auch mit sich selbst) so wichtig sind

12. November 2020 von in

Die in Berlin und Tel Aviv lebende Journalistin und Schriftstellerin Mirna Funk erzählt in ihrer VOGUE-Kolumne „Jüdisch heute“ von ihrem Alltag als deutsche Jüdin – und nimmt uns dabei mit auf eine Reise in eine Welt, über die wir viel zu wenig wissen. Dieser Text handelt von einer gewagten Reise nach Ägypten und wie Funk dort auf die lehrreiche Geschichte von Hillel und Schammai traf.
Dieser Text erschien zuerst auf Vogue.de.

Es war der erste Sommer nach der Revolution in Ägypten, und ich war in den Sinai gefahren, obwohl mir wirklich alle davon abgeraten hatten. Sogar mein Cousin, der sonst richtig hart im Nehmen ist.

Seit 2011 hatten der IS und andere terroristische Splitterorganisationen die Gegend eingenommen. Aber ich war überzeugt davon, dass mir schon nichts passieren würde. Also stieg ich in den Nachtbus nach Eilat und fuhr dann weiter mit einem Taxi zur ägyptischen Grenzstadt Taba. Ich war die Einzige am Grenzübergang. Die Einzige, die keine Ägypterin war.

Eine gewagte Reise

Selbst das israelische Militär zeigte mir einen Vogel als ich ihnen sagte, ich wolle nach Ras el Satan (Ring Ring!), das Resort, in das ich normalerweise immer fahre und das 1,5 Autostunden von der Grenze entfernt liegt. Ich solle mir das alles noch mal überlegen, das sei keine gute Idee, schon gar nicht alleine als Frau. Ich machte ein bisschen auf hardcore und übertrat die Grenzlinie. Dann stieg ich in ein weiteres Taxi und gab dem Fahrer die Adresse. Auf dem Weg nach Ras el Satan fuhren wir durch drei Ortschaften, in denen ich zu meiner Verwunderung “Passiergebühren” blechen musste. Aber weil die Männer, die nach dem Geld verlangten, allesamt schwere Kalaschnikows um ihre Körper trugen, entschied ich, nicht weiter nachzufragen, sondern zückte sofort mein Portemonnaie, glücklich darüber, nicht einfach entführt worden zu sein. Ohne es selbst zu glauben, kam ich nach zwei Stunden lebend im Resort an. Ebenso ungläubig und erstaunt wie ich selbst reagierten die Besitzer und hießen mich irritiert willkommen. Dann zeigten sie mir meine Hütte, direkt am Meer, in der wie in den guten alten Zeiten eine dreckige Matratze auf dem Sand lag und mehr nicht. Kein Strom, kein Wasser, keine Toilette, kein Schloss. Eine Strohhütte mit einer ranzigen Matratze. Just how I like it.

Ich stellte meinen Backpack in die Ecke, zog einen Bikini sowie meine Stranddecke heraus und lief zum Zentrum des Resorts. Das lag direkt vor dem Restaurant. Ja, das gab es immerhin. Und dort standen große, dunkle Baldachins, unter denen weitere versiffte Matratzen und versiffte Kissen lagen. Ich schmiss meine Decke hin und entschwand ins Meer. Ein Mann auf einer rosa Luftmatratze floatete an mir vorbei.

“Was machst du hier? Bist du irre?”, fragte er mich auf Englisch.
“Urlaub?”, antwortete ich.
“Bitte sag nicht, dass du Jüdin bist.”
“Wieso?”
“Na, weil deine Überlebenschancen rapide sinken würden.”
“Wo kommst du denn her?”
“Aus Haifa”, antwortete er.
“Okay, und bist du Araber?”
“Nein, ich bin Jude.”
“Na dann sterben wir immerhin gemeinsam.”
“So sieht’s aus.”
“Wollen wir für die Entführung schon mal Codes ausmachen?”
“Fangen wir doch mit was Einfachem an. Unsere Namen!”
“Ich heiße Mirna und du?”
“Hillel.”
“Okay.”
“Was okay? Kennst du etwa die Geschichte von Hillel und Schammai nicht?”

Die Geschichte von Hillel und Chammai

Nein, die kannte ich nicht. Also schwamm ich zu Hillels rosa Lufti, schubste ihn ein bisschen zur Seite, so dass wir beide nebeneinander unsere Bäuche auf die Matratze schieben konnten und unsere Beine baumeln lassen. “Schieß los”, sagte ich und dann bekam ich die wichtigste Lektion meines Lebens. “Lass uns mal mit einem jüdischen Witz beginnen”, sagte Hillel. Ich drehte mich auf den Rücken und stützte mich mit den Ellenbogen auf der Luftmatratze ab, um ihn besser sehen zu können. “Was macht ein Jude, der wie Robinson auf einer einsamen Insel strandet? Er baut zwei Synagogen. Und was sagt der einsame Jude, wenn man ihn nach Jahren endlich findet? Die erste Synagoge ist für mich. Die zweite ist die, in die ich niemals gehen würde.” Ich lachte. “Dieser Witz basiert eigentlich auf der Geschichte von Hillel und seinem Gegenspieler Schammai. Beide gründeten zwei verschiedene Schulen oder eben Häuser. Hillel war arm und nett und Schammai reich und streng. Und gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit spielen sie im Talmud eine so wichtige Rolle. Ihre gesamte Beziehung basierte darauf, unterschiedliche Positionen einzunehmen und diese auszudiskutieren.”

“Machloket”, sagte ich.
“Genau Machloket. Die jüdische Streitkultur. Im Talmud findet man über 300 Meinungsverschiedenheiten zwischen Hillel und Schammai, über die relevantesten Fragen des Judentums.”

Hillel war arm und nett und Schammai reich und streng. […] Ihre gesamte Beziehung basierte darauf, unterschiedliche Positionen einzunehmen und diese auszudiskutieren.

“Mich erinnert das ein bisschen an Hanna Arendts Zwiegespräch.”
“Davon habe ich keine Ahnung. Aber was ich weiß, ist, dass wir alle einen Hillel und einen Schammai in uns tragen sollten.”
“Und jetzt willst du wissen, wo mein Schammai war als ich in den scheiß Nachtbus gestiegen bin.”
“Wenn dann fehlte irgendwie Hillel, Schammai wäre bestimmt auch gefahren.”
“Wo war denn deiner?”

Ein Zwiegespräch ist genauso wichtig wie ein gutes Streitgespräch zwischen zwei Personen

Wir verbrachten drei Tage zusammen in Ras el Satan. Schliefen aus Angst in einer Strohhütte bis wir entschieden, genug riskiert zu haben, ein Taxi riefen ließen und zurück nach Taba fuhren. Als wir die Grenze überqueren wollten, hörten wir Schüsse und man hielt uns eine Stunde im Niemandsland fest. Wir kamen weder zurück nach Ägypten noch konnten wir weiter nach Israel. Was passiert war, erfuhren wir nicht. Auch nicht als wir endlich in Sicherheit waren. Was wir lernten, Hillel genauso wie ich, war, dass wir das nächste Mal ein Zwiegespräch führen sollten, bevor wir wieder so einen Quatsch veranstalteten. Das war nämlich genauso wichtig wie ein gutes Streitgespräch zwischen zwei Personen.

Fotocredit: Pexels

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