Editor’s Letter: Von Zeitsprüngen, dem Innehalten und dem Mut, Pausen zu machen
Wer in Hollywood-Filmen einen stimmungsvollen Zeitsprung kreieren will, lässt die Kalenderblättchen zum Abreissen nach und nach auf den Boden segeln. Blatt für Blatt flattert hinab, umrahmt von wechselndem Lichteinfall und dem Blick aus dem Fenster, der verrät: Die Jahreszeiten, sie ziehen mal eben schnell an uns vorbei. Ich besitze zwar keinen Abreißkalender, und doch kam ich mir Anfang August ein bisschen wie in einem dieser Hollywood-Zeitsprünge vor. Schon August? Hatten wir nicht gerade noch März? War mein Geburtstag wirklich schon acht Wochen her? Und sind es nur noch wenige Wochen bis zum Herbst?
Wenn man älter wird, heißt es, die Zeit zerrinnt.
Kaum den Tag in den Händen gehalten, senkt sich schon die Sonne und die 24 Stunden sind vorbei.
Ein Umstand, an den ich mich von Jahr zu Jahr gewöhne und doch hatte ich das Gefühl, dieses Jahr zog noch einmal ein Stückchen schneller an mir vorbei. Das Paradoxe: Obwohl ich – dank Pandemie – doch so viel weniger erlebte. Glaubte ich zumindest. Denn wenn wir ehrlich sind, haben wir so einiges erlebt. Nur nicht zwingend das, was wir Alltag nennen.
Freute ich mich im März im Wellness-Urlaub noch auf meine Buchparty in drei Wochen, blickte ich eine Woche später voll Erstaunen, Unglauben, aber auch einer gewissen Aufregung des Zeitzeugin-Daseins in den Fernseher. Corona, eine weltweite Pandemie, die im Januar noch so fern war, sorgte dafür, dass wir zu Hause blieben. Kaum hatte ich mich – und wahrscheinlich auch der Rest von euch – an diese neue Normalität gewöhnt, öffnete sich das Leben schrittweise wieder. Eine Achterbahnfahrt der Fremdbestimmung.
Zurück blieb ich.
Die Autorin, die ihr Buch während Corona veröffentlicht hatte, zahlreiche Interviews gab, aber seit acht Wochen kein Restaurant von innen gesehen hatte. Oder wochenlang keinen Laden betrat. Nicht mal, um ihr eigenes Buch im Buchhandel zu sehen.
Zurück blieb unser Onlinemagazin, dass zum Anlaufpunkt für Abwechslung und gute Vibes wurde, in den Kulissen im Hintergrund aber trotzdem auch mit Zweifeln belegt war. Wie wird es weitergehen, wenn die Pandemie keine Eintagsfliege ist. (Spoiler: Ist sie nicht, auch wenn die halbe Welt den Eindruck macht). Dass es trotzdem irgendwie weitergeht, zeigte sich in den nächsten Wochen. Harte Arbeit, Kontinuität und der Glaube an sich und die eigene Arbeit zahlen sich eben doch aus.
Existenzangst, eine neue Normalität, gleichzeitig Freude über ein Buch, das so viel und dankbar angenommen wird, Medienrummel und das ständige digitale Reden, während man gleichzeitig Social Distancing betreibt. All das beschäftigte mich.
Gleichzeitig blieb aber auch eine Antonia zurück, die diese Entschleunigung des Alltags sehr genoss. Die mit wenig zufrieden war und gleichzeitig wieder einmal nur ans nächste Ziel dachte. Wer denkt, ich hätte den Erfolg meines Buches trotz abgesagter Buchparty im Stillen abends für mich zelebriert, irrt. Ein weiterer Meilenstein wurde abgehakt, what’s next rumorte wochenlang nur in meinem Kopf. Und: Wie schaffe ich den Spagat zwischen Entschleunigung und eigenem Ehrgeiz? Und warum fällt es mir so schwer, Erfolge als Erfolge zu sehen?
Selbst in einer weltweiten Pandemie –
und wirklich viel Zeit zum Reflektieren –
blieb der eigene Stolz auf das Geleistete irgendwie vor der Tür.
Realisiert habe ich das nicht im Moment. Sondern in den vergangenen zwei Wochen. In unserer Sommerpause. Hätte man mich Anfang August gefragt, wie das Jahr so für mich war, hätte ich wohl gesagt: „Joa, wenig los, Corona-bedingt, irgendwie nichts gemacht, trotzdem irgendwie erschöpft und wie konnte es zur Hölle so schnell August werden?“.
Nach der Pause weiß ich: Der Kopf ist ein gemeines Miststück, und ich sollte weitaus öfter innehalten und ihn gerade rücken. Denn es ist so viel passiert. So viel, dass auch Stolz und ein kleines Schulterklopfen angebracht sind.
Ich war vielleicht sehr viel weniger auswärts essen, habe mich dafür aber in einer Pandemie zurechtgefunden, Menschen beim Hamstern beobachtet und mit meinen NachbarInnen eine enge Verbindung geschaffen. Ich habe ein Buch, mein Buch, veröffentlicht, über 20 Interviews gegeben und Podcasts aufgenommen, zahlreiche Instagram-Nachrichten und Emails neben meinen normalen Jobs beantwortet, und trotzdem immer mal wieder Existenzangst gehabt. Gleichzeitig neue Ideen für ein Buch entwickelt, über meine Zukunft nachgedacht, neue Menschen in mein Leben gelassen und die Gesamtsituation mehr als einmal geschätzt.
Wir haben mit amazed eine aufreibende, spannende Zeit hinter uns, die wir so großartig bewältigt haben, dass sich mein Stolz doch noch durch die Türe quetscht. Zum Glück.
Wir haben alle eine neue Normalität erlebt, leere Städte gesehen und waren das erste Mal einer stillen Gefahr ausgesetzt, die wir – gerade in der westlichen Welt – so wenig kannten. Wir wurden kurzfristig zwangsentschleunigt und brauchen vielleicht auch noch Zeit, wieder Fahrt aufzunehmen. Wir haben das erste Mal bewusst unseren Dämonen tief in die Augen geguckt, weil das Außen keine Option war und gemerkt: Es gibt noch ein paar Kämpfe zu überstehen.
Es ist ein Irrtum, wer glaubt, wir hätten dieses Jahr sehr viel weniger gemacht. Wir haben vielleicht vieles anders gemacht. Aber nicht nichts. Und diese neue Art des Lebens lässt die Tage nochmal schneller an uns vorbeiziehen.
Das erste Mal in sieben Jahren haben wir uns eine zweiwöchige Pause gegönnt. Milena hat sie im Offline-Modus in Italien verbracht, Amelie mit FreundInnen in Berlin und München und ich mit meinen Liebsten in München. Selten war eine Pause so nötig, so gut und so wohltuend. Zwei Wochen abschalten, keine Verpflichtung – ja das leichte Sommerferien-Gefühl. Einfach mal nichts tun. Die Gedanken kommen und gehen lassen. Und neue Ideen wachsen lassen.
Als ich Anfang der Sommerpause auf den Kalender blickte, war ich geschockt. Schon August. Jetzt blicke ich auf den Kalender und denke, immer noch August. Die Uhren ticken wieder langsamer, die Entschleunigung hat von mir Besitz ergriffen.
Es braucht keine Pandemie für eine Entschleunigung. Es braucht nur den Mut und den Wissen, sich Pausen zu gönnen.
Innezuhalten und einfach mal abzuschalten. Auch in einem Business, in dem das tägliche Onlinesein, das ständige Verfügbarsein und Präsentsein fast schon zur Pflicht wird. Doch gerade dann zu sagen: Wir brauchen diese Pause, wir nehmen sie uns und wir wissen auch, danach geht es umso schöner, stärker und ideenreicher weiter, beweist Mut und Stärke. Und ich bin so unendlich stolz, dass wir alle drei diesen Mut immer öfter aufbringen. Dass wir als Team seit bald acht Jahren immer wieder neu gemeinsam entscheiden. Für uns, für unsere MitarbeiterInnen und für euch, ihr wunderbaren LeserInnen. Dass ihr uns immer wieder spiegelt, in den Dialog geht und vor allem jede Pause annehmt. Und trotzdem wieder kommt.
Das gibt uns Kraft und lässt uns heute, hier und jetzt, voller Tatendrang, neuen Ideen und Inspirationen in den Rest dieses verrückten, manchmal etwas unwirklichen Jahres starten. Wir freuen uns riesig auf die nächsten Monate mit euch!
Antonia, Amelie und Milena
Photocredit: Elina Sazonova
2 Antworten zu “Editor’s Letter: Von Zeitsprüngen, dem Innehalten und dem Mut, Pausen zu machen”
Vielen Dank für die schönen Worte, die gerade sehr guttun, da sie exakt spiegeln, was meine Gefühle Anfang und Ende dieses Augusts waren :-) Und auch vielen Dank für eure Arbeit, ich freue mich jetzt wieder auf spannenede neue Artikel von euch :-)
<3