Du fehlst mir, du fehlst mir – wie sich Corona zwischen meine Freundschaften drängte
Sie hieß Nina, und sie war meine beste Freundin. In der sechsten Klasse konnte uns nichts trennen. Obwohl wir in zwei unterschiedlichen Orten wohnten. Als Zwölfjährige sind zehn Kilometer eine Weltreise, glücklicherweise hatten wir Eltern, die gerne den Pendelverkehr übernahmen. So sahen wir gemeinsam Filme, besuchten uns nach der Schule, aßen zusammen Mittag und streiften über die Felder. Wir liebten Vampire, Bücher und die Hörspiele der Drei Fragezeichen ???. 1996, nach dem Besuch des TicTacToe-Konzerts in München in Begleitung unserer Eltern dachte ich, nichts und niemand könnte uns trennen. Wir verbrachten viele Nachmittage zusammen, telefonierten und saßen nebeneinander in der Schule. Bis Kathrin kam. Eine neue Mitschülerin ist immer aufregend, neue Gesichter im Dorf, das ist spannend, wenn sonst nichts anderes passiert. Kathrin wohnte im selben Ort wie Nina. Und was mich zuerst freute – „Hey, jetzt musst du nicht mehr alleine zur Schule Busfahren“ – entpuppte sich schnell zum Albtraum. Für mich. Erst hatte Nina immer weniger Zeit, dann fielen die versprochenen Telefonate aus. Die wenigen Male, die wir uns noch sahen, erzählte sie Geschichten, die sie mit Kathrin erlebt hatte. Ich versuchte mich für sich zu freuen und scheiterte grandios. Lachte gequält mit und weinte abends still. Spätestens als die beiden in den Schulpausen über Dinge kicherten und ich fragte, worum es ging, und es nur mehr ein „Ach, verstehst du nicht, ist ein Insider“ gab, wusste ich, ich hatte verloren. Sofern man in Freundschaften verlieren kann. Es war kein Wettbewerb gewesen und trotzdem fühlte ich mich auf dem letzten Platz. Nina und ich hatten uns entfremdet.
Dem Gefühl mit Machtlosigkeit der Entfremdung zuzuschauen, die Wut auf die dritte Person zu bündeln und doch unterbewusst zu wissen:
Sie kann gar nichts dafür.
Bis heute fühle ich den Schmerz der verlorenen Freundschaft. Dem Gefühl mit Machtlosigkeit der Entfremdung zuzuschauen, die Wut auf die dritte Person zu bündeln und doch unterbewusst zu wissen: Sie kann gar nichts dafür. Leben passiert, Menschen sind sich nah, lassen die Bande wieder locker und manchmal verschwinden sie komplett. Als Zwölfjährige war das eine harte Lektion, heute weiß ich: Das ist der Lauf der Dinge.
Ich bin keine Person, die tausende von Menschen in ihrem Leben hat. Klein, aber fein, das ist mein Motto, wenn es um meinen Freundeskreis geht. Die Menschen, die ich in mein Leben lasse, sind mir wichtig. Ich schätze sie, ihre Meinung, ihre Ansichten und vor allem natürlich ihr Wesen. Ich bin nicht immer die beste Freundin, denn wer ist das schon? Im Struggle des Erwachsenwerdens, zwischen Arbeit und privaten Freuden bleibt das Zeitmanagement manchmal auf der Strecke. Nicht jede Freund*in sehe ich jede Woche, manchmal vergehen Wochen, bis wir uns wieder treffen. Dann aber schenken wir uns die ungeteilte Aufmerksamkeit, sind füreinander da und wissen: Eigentlich hat sich nichts verändert. Mir ist es wichtig, spätestens seit der sechsten Klasse, meinen Freund*innen immer das Gefühl zu geben, sie bedeuten mir viel, ich möchte Teil ihres Lebens sein. Und sie auf keinen Fall verlieren.
Das klappte eigentlich immer gut. Bis Corona kam – und mit der Pandemie all die Einschränkungen. Es ist das eine, sich immer wieder digital auszutauschen, um sich wenig später in echt zu sehen. Es ist das andere, wenn es zum Dauerzustand wird. Wenn schöne Erlebnisse ausbleiben oder ein Spaziergang das maximale der Gefühle ist. Ich sehe meine Freund*innen zu selten. Und das macht etwas mit mir, uns.
Entfremdung bedeutet die Distanz, die zwischen zwei Menschen entsteht. Wenn aus einer emotionalen Beziehung eine sachliche, funktionale wird.
Der erste Lockdown kam und alles war irgendwie beängstigend, aber auch aufregend. Corona war wie Kathrin, die frisch in die Klasse gekommen war. Sie sorgte für Aufruhr, Spannung, aber musste sich auch erst in unseren Alltag einfügen. Das gelang Kathrin – und auch der Pandemie. Im Sommer war das Leben fast schon wieder normal. Ich traf meine Freund*innen, wir saßen in Restaurants draußen und redeten bis spätnachts an der Isar. Es war fast wie immer. Kathrin alias Corona gehörte zu unserem Leben dazu, sie bereicherte es nun wirklich nicht, aber man hatte sich an sie gewöhnt.
Und dann kam der Herbst, der Winter. Wir gingen spazieren, wir tauschten uns aus, wir wurden aber auch müde. Die Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass wir – vernünftig wie wir sind – unseren Kontakt aufs Mindeste runterfuhren. „Lass uns mal spazieren gehen“, wurde zum Claim, bei dem wir beide wussten, ja vielleicht, irgendwann. Die digitale Kommunikation blieb – und doch ebbte auch sie in den letzten Wochen ab. Kein Wunder, denn der Lockdown zerrt an uns.
Stecke ich gerade zu wenig Energie in meine Freundschaften?
Wer den ganzen Tag vor dem Laptop sitzt, tut sich schwer, abends auch noch drei Stunden Facetime oder Sprachnachrichten anzuhören. Mein Inneres drängt dann eher nach Smartphone in die Ecke pfeffern, Sport zu machen oder zu kochen. Bloß kein digitales Leben. An den Wochenende geht es raus, spazieren, meist mit der einen Kontaktperson, die ein jeder von uns hat. Manchmal noch die Freundin oder der Freund, die oder der im Viertel wohnt. Denn durch die halbe Stadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren: Nein danke. Ansonsten bleibt es einsam. Denn Corona hat gewonnen – zumindest für den Moment.
„Wie gehts dir?“ „Ganz gut und dir?“ „Auch ganz okay.“ „Wollen wir spazieren gehen?“ „Vielleicht die nächste Woche?“ „Gibt es was Neues bei dir?“ „Nicht wirklich. Bei dir?“ „Nee, muss jetzt auch weiterarbeiten. Hab einen schönen Tag.“ Funkstille.
Entfremdung zwischen Menschen entsteht im Normalfall, wenn der Alltagsstress unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zermürbt. Wenn wir gehetzt sind, wenig Raum für Schönes haben. Wenig Intimität und Offenheit verloren geht, weil Whatsapp eben nicht der Ort dafür ist. Wenn zwei Menschen immer weniger Zeit miteinander verbringen und weniger schöne Erlebnisse miteinander teilen. Oder auch: Wenn eine Pandemie uns dazu zwingt.
Genau dann wird die Kommunikation sachlicher, funktionaler. Wir erzählen von unseren Rahmenbedingungen, vom Alltag, nur das Emotionale bleibt auf der Strecke. Denn die Distanz hat längst überhand genommen. Wir entfremden uns.
Stecke ich zu wenig Energie in meine Freundschaften? Diese Frage ließ mich in den vergangenen Wochen öfter mal wach liegen. Ich hatte meinen Kreis beschränkt. Auf Freund, Schwester, die eine Single-Freundin, die mich am meisten braucht. War das zu wenig? Vielleicht, war die Antwort, mit dem Wissen, dass ich gerade aber auch wenig Kapazität habe. Die Situation zerrt an mir, an uns. Der Input aus dem Außen fehlt mir, die alltägliche Eintönigkeit macht das Leben nicht leichter, sondern schwerer. So sehr ich gerne jeden Tag meine Freund*innen anrufen würde, ihnen das Gefühl geben möchte, ich bin da, lass uns gerne stundenlang digital kommunizieren, ich kann es nicht. Ich habe wenig zu erzählen, wenig zu geben und wünsche mir nur eines: den Frühling und eine Besserung der Situation herbei.
Doch wie damit umgehen, wenn sich plötzlich jemand namens
Corona zwischen die Freundschaften drängt?
Wenn man machtlos zuschauen muss, wie man sich entfremdet, weil ein wöchentliches Treffen zu dritt oder zu viert in den eigenen vier Wänden gerade nicht möglich, erlaubt ist. Wenn man der Freundin bei ihrem Kummer nicht zur Seite stehen kann, die Umarmung warten muss und das echte Gespräch Wochen her ist.
In der sechsten Klasse sah ich machtlos zu, wie sich Kathrin unbewusst zwischen Nina und mich drängte. Ich bettelte um Ninas Aufmerksamkeit, weinte für mich, sprach aber nie selbst mit Nina darüber, was diese neue Situation mit mir machte. Als ich es tat, war es zu spät. Nina wollte es nicht mehr hören. Heute bin ich nicht nur älter, sondern auch schlauer.
„Du fehlst mir“, schrieb ich letztens einer Freundin. „Ich habe das Gefühl, wir entfremden uns, ich würde so gern mehr wieder von dir und deinem Leben wissen.“ „Ich weiß, Corona ist ein Arschloch. Es gibt gerade wenig zu erzählen. Aber ich bin mir sicher, es wird wieder anders.“ Den anderen sehen, die Machtlosigkeit formulieren und vielleicht doch bei milden Temperaturen eine Runde mit Abstand spazieren gehen, können schon helfen.
Das Gute ist: Corona wird sich wieder zurückziehen. Spätestens im Frühling. Die Situation wird leichter werden, die Freundschaften wieder inniger. Und jene, die diese Zeit nicht überstehen, hätten es bei einer Kathrin vielleicht auch nicht.
Nina wurde während der Schulzeit nie wieder meine beste Freundin. Wir entfremdeten uns, feierten getrennt auf dem gemeinsamen Abiball. Zehn Jahre nach dem Abi trafen wir uns wieder. Heute ist sie die Einzige, die ich aus meinem Jahrgang noch höre. Freundschaften durchgehen Phasen, Lebensabschnitte und sie können viel überstehen. Auch Herausforderungen wie Corona.
6 Antworten zu “Du fehlst mir, du fehlst mir – wie sich Corona zwischen meine Freundschaften drängte”
Ein schöner Text über Freundschaften und wie diese sich verändern. In viele verschiedenen Richtungen.
Danke <3
Ich habe deswegen entschieden, meinen Kreis wieder zu erweitern. Nicht mehr nur diese eine Person zu haben.
Eine einfach Abwägung zwischen meiner psychischen Gesundheit und dem Bewusstwerden darüber, dass ich diese Beziehungen zu verschiedenen Menschen wirklich wirklich brauche.
Eine Zeit lang ist das durchzuhalten, aber für mich persönlich nicht über Monate hinweg im Winter als frisch getrennter Single mit Liebeskummer.
Ich gebe mein Bestes, habe aber wieder angefangen, mit der Ubahn durch die ganze Stadt zu fahren, um meine Freunde zu sehen.
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