Diskussion: Wie stehen wir denn nun zum Reisen?
So langsam geht es wieder los oder wir sind vielleicht schon mitten drin: Wer jetzt noch keine Reise für dieses Jahr gebucht hat, der wird schnell mal nervös, denn schließlich ist jeder irgendwo, und seit einer ganzen Weile nicht mal mehr nur im Sommer, sondern auch im Winter eben da, wo es gerade warm ist. Erst waren die immer häufigeren Fern- und Bloggerreisen vor allem ein Statussymbol, dann wurde glücklicherweise das Thema Flugshaming laut – mittlerweile gibt es zum Reisen sehr viele, aber keine einzig richtige Meinung mehr.
Ich selbst war im Januar auf einer Fernreise, lege gerade eine Verschnaufpause ein, um mein Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken, fühle aber schon langsam wieder das Kribbeln in den Fingern und merke, dass ich gerne wieder reisen würde – vor allem, wenn ich darüber nachdenke, aus egoistischen Gründen, denn Reisen tut mir gut und kitzelt mit all seinen neuen Eindrücken immer wieder neue Kräfte aus mir heraus. Wie ist das denn aber nun eigentlich, ist das Reisen wirklich nur ein überflüssiges Ego-Pinseln? Wären wir alle bessere Menschen, wenn wir nur noch Fahrradausflüge machen würden? Hat das Reisen vielleicht auch einen Mehrwert, der über uns selbst und unsere eigene Horizonterweiterung hinausgeht? Und was für Beweggründe – und auch Hemmungen – habt ihr denn so, wenn ihr verreist?
Ich finde es fast schon belustigend, dass es heute häufig „Reisen“ heißt und nicht mehr „Urlaub“. Denn es gibt doch einen gewaltigen Unterschied zwischen Reisen und Urlaub. Eine Reise dauert 1. lange, ist 2. sehr anstrengend und geht 3. in ferne Länder. Ein Urlaub hingegen ist dazu da, die Seele baumeln zu lassen und sich eine schöne Zeit zu machen. So viele Menschen sprechen bei ihren vermeintlichen Urlaubsplänen von Reiseplänen und da bekomme ich oft schon ein Problem. Da sie ihren persönlichen Nutzen, also „mal was anderes sehen, nicht arbeiten, eine schöne Zeit haben, gut und sehr günstig essen / wohnen“, damit hinten anstellen und es so wirkt, als seien sie der Welt es sozusagen schuldig, zu reisen. Als sei es etwas Erstrebenswertes und Persönlichkeitsförderndes.
Doch die Deutschen teilen sich für mich in zwei Lager auf: die, die tatsächlich reisen und die, die Urlaub machen. Die, die tatsächlich Reisen, also die Weltenbummler, die DokumentarfotografInnen und -filmerInnen, die, die der Welt etwas von anderen Kulturen und Ländern erzählen und näher bringen, muss es meiner Meinung nach geben, um uns zu informieren. Der Rest könnte aber seine Yogakurse auch am Starnberger See absolvieren, statt im All-Inclusive-Urlaub auf Bali. Ich bin auch so eine Kandidatin im Team „Urlaub“ und werde vielleicht auch nochmal in meinem Leben auf einen anderen Kontinent fliegen. Aber mir ist klar, dass das eine ganz und gar egoistische Handlung ist und ein Luxus, den ich mir gönne.
Jowa
Meine Meinung zu diesem Thema ist sehr ambivalent. Ich war selbst in den letzten zwei Jahren jeweils knapp zwei Monate auf einem anderen Kontinent. Ich will diese Erfahrungen absolut nicht missen. Es war erst das zweite bzw. dritte Mal, dass ich in meinem Leben den europäischen Kontinent verlassen habe. Und es war auch das erste Mal, dass ich eben keinen Urlaub machte, sondern wirklich reiste. Ich kannte vorher bloß Campingurlaub in Holland oder Frankreich, den man mit Gameboyspielen und Lesen verbrachte. Das Backpacking, das ich nun beim Reisen betrieb, hatte mit Erholung überhaupt nichts zu tun. Es war im Gegenteil extrem aufwühlend und hat mich die Welt in einem ganz anderen Licht sehen lassen. Schließlich ist an den ganzen blöden Instagram-Sprüchen ja auch ein kleiner, wahrer Kern: Ja, Reisen kann den Horizont erweitern, Reisen lässt vieles in einem neuen Licht erscheinen und es kann einem auch helfen, die Welt ein bisschen besser zu verstehen.
Aber: ich sage bewusst „kann“. Denn das ist auch eine Erkenntnis, die ich beim Reisen hatte: Nur, weil jemand schon an den abgelegensten Ecken der Erde gewesen ist, macht das ihn oder sie nicht zwangsläufig zu einem besseren oder weiseren Menschen. Hängt man nur mit australischen Touris im Hostel rum und klappert monatelang Instagram-Hotspots ab, dann hätte man bei einer Wanderung in den Hartz genauso viel vom Leben lernen können. Wie so oft kommt es auch beim Reisen darauf an, mit welchem Mindset man an die Sache herangeht. Ich finde es gefährlich, dass Personen sofort als erleuchtet und kulturell kompetenter betrachtet werden, nur weil sie mal einen Elefanten in Thailand gestreichelt haben. Das Reisen wird von der westlichen Kultur mit Bedeutung überladen. Und das hat sehr fatale Folgen für Mensch und Natur: Gerade Orte, die auf Instagram einen Hype erfahren, werden von Touristen überrannt und schließlich zerstört. Langstreckenflüge sind fatal für unser Klima. Und der Tourismus vereinnahmt einen einzigartigen Ort nach dem anderen.
Einerseits finde ich es großartig, dass wir heute so einfach hautnah erleben können, wie das andere Ende der Welt aussieht, wie andere Kulturen funktionieren und wie bereichernd es sein kann, mit Menschen in Kontakt zu kommen, mit denen man auf den ersten Blick überhaupt nichts gemeinsam hat – insofern man für diese Erfahrungen wirklich offen ist. Andererseits wird diese Form des Reisens inzwischen derartig exzessiv betrieben, dass sie eine Bedrohung für Mensch und Natur darstellt. Ich finde, es sollte nicht erlaubt sein, für eine Woche nach Thailand zu fliegen oder für ein Wochenende zum Shoppen nach New York. Deswegen hab ich für mich beschlossen, erst mal ein paar Jahre in Europa zu bleiben und nicht mehr zu fliegen. Fernreisen sollte man sehr bedacht unternehmen, man sollte sich Zeit nehmen und vor Ort darauf achten, möglichst respektvoll mit den Menschen und der Umwelt umzugehen. Will man wirklich etwas mitnehmen, sollte man auch bereit sein, als Gegenleistung etwas abzugeben.
Milena
Die Art, wie du durch Indien, Nepal und Südamerika getingelt bist und danach von so viel Neuem, Fremdem und dann wieder Ähnlichem in der Fremde erzählt hast, fand ich wahnsinnig spannend. Obwohl ich schon beim Gedanken daran Gänsehaut bekam, als du gerade alleine auf einer 12-stündigen Busfahrt durch Indien fuhrst – dafür bin ich auf jeden Fall zu zart besaitet, und wahrscheinlich fehlt mir dann doch das ein oder andere Abenteurer-Gen, wenn es um das Reisen geht. Wahrscheinlich bin ich irgendwo zwischen dem Urlauber, der es sich in der Ferne gut gehen lassen möchte, und dem Reisenden, der Neues kennenlernen und auch davon berichten will – ganz sicher reise ich aber meistens primär zum eigenen Vergnügen und nicht, weil ich denke, damit in der Welt etwas Gravierendes beizutragen. Ganz klar, an einen anderen Ort zu fahren fühlt sich gut an, man wird überschüttet mit Endorphinen und neuen Eindrücken, und auch das Abschalten und Seele baumeln lassen fällt sehr viel leichter. Was für mich heute aber anders ist als früher: Wenn ich schon in einen Flieger steige, dann muss sich der Trip für mich rund anfühlen. Für einen Tag nach Düsseldorf und wieder zurück zu fliegen, um mir eine Kollektion anzuschauen, habe ich früher gern gemacht, heute sage ich zu 90% ab. Eine Pressereise, auf der ich nichts vom Ort zu sehen kriege, sondern nur Klamotten, würde ich versuchen zu verlängern, dass ich auch den Ort wahrnehmen und darüber berichten kann. Denn diese Herangehensweise geht einfach nicht aus meinem Kopf: Wenn ich schon die Magie eines Ortes wahrnehmen darf, dann möchte ich das Erlebte auch festhalten und hier zeigen. Ob das das eigene Erlebnis schmälert, ist eine andere Frage.
So hat für mich jede Reise in gewisser Weise einen Sinn – und was mir übel aufstößt, ist das Verreisen als omnipräsentes Statussymbol. Jeder liebt es, tut es und dokumentiert alles. Nicht wenige reisen so viel wie möglich und zeigen ihr Jet-Set-Leben überall – am liebsten überall gleichzeitig zu sein, nur nicht zu Hause, ist für viele der schönste Lifestyle. Ich muss und möchte nicht fünfmal im Monat woanders sein, ich nehme mir gerne Zeit, um eine Reise zu verarbeiten und bin außerdem auch gerne zu Hause, wo sich mein Leben abspielt. Ich möchte den Wert einer Reise bewahren, indem ich das Reisen nicht inflationär betreibe. Doch habe ich das Gefühl, für viele war das Jahr nicht gut, wenn nicht alle zwei Monate oder öfter irgendwo hingefahren wurde. Auch für mich war das Verreisen zeitweise wie ein Zwang, das Fernweh ständig da und ich nicht zufrieden, wenn ich keine nächste Reise geplant hatte – deshalb ist das aktuelle Jahr umso spannender für mich, in dem ich zum ersten Mal kein überwältigendes Reisebedürfnis verspüre und mich gerade einfach nur auf einen Sommer in München und mein reales Leben zu Hause freue. Daran kann man nämlich gar nicht so viel neu gestalten, wenn man ständig unterwegs ist.
Antonia
Exakt. Ich finde, ein Leben ist nicht zwingend spannender oder „besser gelebt“, wenn man viel reist. Ein Jahr ist schon gar nicht vergeudet, weil man nicht verreist ist. Menschen sind glücklicherweise unterschiedlich – und nicht jeder muss zwingend reisen, um mehr Weisheit zu erlangen. Wir können uns diese auch aus anderen Quellen, mit einer genauen Sicht auf die Menschen um uns herum, und einfach einer offenen Lebensperspektive holen. Ich persönlich reise sehr wenig, würde aber trotzdem behaupten, einen tiefen Blick aufs Leben und die verschiedensten Kulturen zu besitzen. Meine Flugangst hemmt mich, außerdem bin ich auch immer gerne zu Hause in Bayern, ein zweiter Grund ist aber auch immer öfter, weil ich dieses „Reisen als Statussymbol“ geradezu ganz schrecklich finde.
Es muss immer höher, immer weiter sein. Ein 30. Geburtstag in der Lieblingskneipe mit den Lieblingsmenschen? Nein, es muss schon Barcelona, Paris oder Amsterdam sein. Nur weil wir es können, aufgrund von günstigen Flugpreisen und unserem Privileg des Reisens, ist es nicht zwingend auch gut. Für mich geht’s im Leben nicht um die Dinge, die wir tun oder besitzen, sondern wer wir sind. Welche Werte ich vertrete, für welche Meinungen ich einstehe und wie ich die Menschen in Nah und Fern unterstütze. Dafür muss ich nicht fünfmal um den Erdball gereist sein, um dies zu tun – oder ein reicheres Leben geführt zu haben. Ich weiß, ich werde nie ein großer Abenteurer sein, wie du Jowa. Wenn ich verreise, ist es, um zu urlauben, einen Tapetenwechsel zu haben oder auch einfach die Seele baumeln zu lassen. Das funktioniert tatsächlich oft besser, wenn man nicht zu Hause ist. Aber: Dafür muss ich nicht 12 Stunden durch die Welt fliegen, hier reicht mir genauso ein schöner Ort in der Toskana oder an der Ostsee.
Außerdem müssen wir wirklich auch die negativen Auswirkungen des heutigen Reisens und Dokumentierens beachten. Viele Instagram-Spots sind überlaufen, werden zerstört und müssen gesperrt werden, weil zu viele Menschen auf der Suche nach dem perfekten Bild sind, zuletzt erst Island. Die Seychellen haben bereits eine Limitierung der Anreisenden, damit die Insel nicht überlaufen wird, andere Orte wie die Malediven und Bali ersticken in einem Müllproblem, da schon die einheimische Müllproduktion ein Problem ist, mit den Touristen ist es fast nicht mehr zu bewältigen. Ich finde es wichtig, dass wir uns auch das bewusst machen. Und vielleicht öfter wieder nach der Vernunft entscheiden, statt nach der Sehnsucht nach den perfekten Fotos oder der gewünschten Außenwirkung.
Erzählungen von euren Reisen höre ich übrigens gerne. Würde es aber auch immer ansprechen, wenn eine von euch zum Shoppen fürs Wochenende nach New York jetten würde. Ob ich jemals nochmal den Kontinent verlassen werde und weiter als nach Island reisen werde? Vielleicht. Die Natur Kanadas sowie Teile Afrikas würde ich gerne irgendwann noch sehen. Aber fürs erste werde ich Europa weiter entdecken.
Abschließend lässt sich also wohl sagen, dass wir uns im Grunde alle einig sind, wir aber gleichzeitig genauso zerrissen sind. Fernreisen sind bereichernd, prägen einen, aber sie sind eben auch in erster Linie ein Vergnügen, das man für sich tut. Die wenigsten von uns steigen in den Flieger, um das Kulturgut des Landes nach außen zu tragen oder sich vor Ort wirklich mit den Sorgen, Nöten, aber auch Freuden und Erfahrungen der Menschen zu beschäftigen. Wir steigen in den Flieger, weil wir uns etwas Gutes tun wollen, eine andere Welt entdecken und eine Auszeit nehmen wollen. Jeder auf seine ganz persönliche Art und Weise. Wichtig ist, dass man sich das bewusst macht – und bei einer großen Reise auch dazu steht.
9 Antworten zu “Diskussion: Wie stehen wir denn nun zum Reisen?”
Tolles Format das mal wieder zeigt, was für tolle, kluge Autorinnen ihr seid :) Gerne mehr Beiträge, bei denen das ganze Team zu Wort kommt.
Ich kann mich Henrike nur anschließen; ein weiterer wertvoller Beitrag über ein wichtiges Thema. Ich habe bisher eine Fernreise gemacht, mir zum 30. tatsächlich den Traum New York erfüllt und zehre auch zehn Jahre später noch immer von den Erlebnissen, die ich dort hatte – für mich also definitiv der Kategorie „Reise“ zuzuschreiben, auch wenn es sich um ein urbanes Abenteuer gehandelt hat. Seitdem bewege ich mich bewusst in Europa und dies zu 90% auf Schienen. Auch der in Kürze bevorstehende nächste Runde Geburtstag (*seufz*) wird in Europa stattfinden… Dank euch von und mit Unplanned und ich bin unfassbar gespannt :)
Ich sehe das ganz ähnlich. Reisen und Urlaub sind ein Privileg, dass wir uns leisten können!
Eine Fernreise kann es einfacher machen sein Leben in Perspektive zu stellen und abzuschalten um sich auf eine andere Kultur einzulassen. Ich selber bin sehr früh mit meiner Familie auf andere Kontinente geflogen und sehr dankbar über die gemeinsamen Erlebnisse, aber wenn ich unterwegs Leute kennenlerne und auflisten muss, wo ich überall war, ist es mir 1. unangenehm und 2. sage ich immer dazu, dass ich finde, dass man nicht reisen muss um ein besserer Mensch zu sein. Das ist nämlich die andere Seite der Karte. Viele traveler denken tatsächlich, dass sie den ‚richtigen‘ Lifestyle leben und die Menschheiz bereichern und da denke ich mir immer nur NEIN NEIN NEIN. Wer offen und aufnahmefähig ist, muss nicht x Stunden fliegen, um zu sehen was andere Menschen bewegt. Das kann man auch daheim in der eigenen Nachbarschaft, wenn man nur mit offenem und empfänglichen Auge durchläuft.
Super Thema!
Ganz toller Artikel und spannende Meinungen. Sehr interessant auch die Auffassung, dass Menschen, die viel reisen, nicht unbedingt weltoffener sind als andere.
Ich dachte lange Zeit, dass ich „komisch“ bin, weil mich momentan nur Europa so richtig reizt.
Je mehr ich aber diese ganzen Backpacker und Jetsetter kennenlerne, die außer ein paar Instafotos nichts von ihren zahlreichen Reisen mitgebracht haben, desto lieber verbringe ich meine Zeit in italienischen Museen oder französischen Cafés. :)
[…] bis vor Kurzem noch ziemlich in den Sternen, denn für private Reisepläne fehlt mir momentan auf ganz ungewohnte Weise der Antrieb. Zu komplex ist dieses Jahr bisher gewesen, und keine großen Pläne zu machen fühlt sich gerade […]
[…] Die Fahrt dauert sehr viel länger, ist dafür aber umso spannender. Aber schon Goethe sagte: Das Reiseabenteuer beginnt mit dem Weg dahin. Ein Satz, der heute nur noch selten gilt. Über Felder und Wiesen […]
[…] – Ein Thema, das uns in der Redaktion auch täglich umtreibt, haben die Kolleginnen bei amazed in Form eines kollektiven Zwiegesprächs aufgegriffen, in dem wir uns total wiederfinden. Es geht um die aktuelle Diskussion, wie okay Reisen oder vielmehr Urlaubsflüge in Zeiten des Klimawandels sind. Gibt es wirklich noch vertretbare Gründe, in ein Flugzeug zu steigen? Sind Urlaube zu Statussymbolen verkommen, die unsere Umwelt zerstören? Und reicht Bayern statt Bali? Lest selbst! […]
[…] – Ein Thema, das uns in der Redaktion auch täglich umtreibt, haben die Kolleginnen bei amazed in Form eines kollektiven Zwiegesprächs aufgegriffen, in dem wir uns total wiederfinden. Es geht um die aktuelle Diskussion, wie okay Reisen oder vielmehr Urlaubsflüge in Zeiten des Klimawandels sind. Gibt es wirklich noch vertretbare Gründe, in ein Flugzeug zu steigen? Sind Urlaube zu Statussymbolen verkommen, die unsere Umwelt zerstören? Und reicht Bayern statt Bali? Lest selbst! […]