Die unbegründete Angst vor dem Rückschritt

24. Mai 2023 von in

In eine kleinere Wohnung ziehen – oder gar wieder zurück ins Kinderzimmer, obwohl man gerade noch in der Lieblingsstadt auf 100 Quadratmetern in Saus und Braus lebte. Eine Position voller Verantwortung gegen ein niedrigeres Gehalt eintauschen. All das klingt, so wie es da steht, ziemlich negativ. Dabei ist es nur der Blick, den wir einnehmen. 

Wie oft habt ihr euch gedacht, dass ihr einen riesigen Schritt zurück gemacht habt, während ihr euch aber zeitgleich so lebendig gefühlt habt, wie nie zuvor? Widersprüchlich, sagen die einen. Verständlich, sage ich. Denn: Das, was andere vielleicht als Rückschritt sehen, kann für uns selbst die klügste, bewussteste und selbstliebendste Entscheidung unseres Lebens gewesen sein.

Viel mehr stellt sich doch die Frage: Ist ein Schritt zurück auch gleichzeitig eine Verschlechterung?

Die oben beschriebenen Szenarien habe ich die letzten Jahre beobachtet – und auch selbst bin ich sicherlich den ein oder anderen Schritt zurück gegangen. Dabei habe ich oft gemerkt, dass das Umfeld auf solche Veränderungen im Leben eher bewertend reagiert, gerne solche Entscheidungen auch herabwürdigt. Aber wieso um alles in der Welt, wird davon ausgegangen, ein Rückschritt sei etwas Negatives? 

Wenn das Leben so eindimensional ablaufen würde, wie wir es uns manchmal zugunsten der Unerschütterlichkeit wünschen, könnten wir dann nicht gleich einfach aufhören? Ich empfände es als ziemlich langweilig, denn gerade die Zeiten, mit denen ich absolut nicht gerechnet habe, will ich nie mehr missen. Ihr etwa? Zumal ich mir sicher bin, dass wir dann bei all dem, was wir tun, unsere Leidenschaft verlieren könnten.

Es gibt zwei Optionen: Entweder ist der Rückschritt eine Erkenntnis, die sich zu einem Ansporn entwickelt oder einfach eine Wohltat für das eigene Wohlbefinden.

Spätestens seit 2020 (ja, über diese Zeit wollen wir nichts mehr lesen, aber ich muss es kurz einwerfen) wissen wir, dass wir rein gar nichts wissen, außer: Unsere privilegierte Sicherheit ist doch nicht unerschütterlich. Überraschung. Gerade in dieser Zeit, oder besser gesagt in der Zeit danach, mussten oder wollten einige von uns einen anderen Weg einschlagen. Einen Weg, der vielleicht nicht in dieser Form auf dem Visionboard angepinnt war. Sagen wir, eher das komplette Gegenteil von all dem. Und das aus verschiedenen Gründen. Die einen musste es tun, weil sich die finanziellen Gegebenheiten veränderten. Die anderen wollten es tun, weil sie merkten, dass sie nach mehr oder nach etwas anderem streben möchten. 

Manche Umstände liegen einfach nicht in unserer Macht. Einzig der Umgang mit all dem liegt bei uns. Und da liegt er ziemlich gut. 

Rückschritt kann auch mal Definitionssache sein

Was gibt dem Wort Rückschritt eigentlich so viel Macht über uns, dass es uns teilweise schlaflos zurücklässt? Ist es wirklich wichtig, den Weg stets geradlinig entlangzuspazieren, und nie auch mal anzuhalten, um dann ein paar Schritte zurückzulegen? Alles mit einer – vielleicht sogar nötigen – Distanz zu visualisieren?

Wir können zielstrebig sein, wir können ambitioniert sein und abseits jenes gesellschaftlichen Druckes, sollten wir auch unbedingt unser eigenen, definierten Ziele verfolgen, die sich bitte auch von den Vorstellungen anderer abheben können. Mit Rückschritt verbinde ich also nicht das totale Herumliegen und die Alles-Egal-Haltung, sondern viel mehr den natürlichen Lauf des Lebens. Schließlich befinden wir uns nicht in einem unvermeidbaren YouTube-Vorspann mit Weisheiten eines selbst ernannten Coaches, für den ein Rückschritt mit einer Straftat gleichzusetzen ist.

Lieber einen Schritt zurück, als wild mit Scheuklappen durch das Leben huschen 

Manchmal kann diese unaufhaltbare Geschwindigkeit im Leben die eigene Wahrnehmung verzerren. Wenn es so rasant, so gut läuft, in allen Facetten des Lebens, bleibt manchmal keine Zeit zu reflektieren, sich kurz mal zu fragen, welches Ziel überhaupt noch verfolgt wird.

Wie klingt stattdessen lieber das? Einen Schritt zurück zu gehen bedeutet einzuatmen, durchzuatmen. Die Situation mit etwas Abstand zu betrachten. Das Leben neu zu bewerten und neue Ziele und Wünsche festzustecken. 

Ich für meinen Teil, nehme es als viel unbequemer wahr, auf der Stelle zu bleiben und ständig die gleichmäßige Strecke im Leben vorzufinden, als zwischendurch mal wieder vor- und zurückgeworfen zu werden. Wir dürfen auch erneut wieder an den gleichen Punkt geworfen werfen, wir dürfen uns auch darüber aufregen, aber wir sollten fair genug zu uns selbst sein: Rückschritt ist kein Weltuntergang. Es kann sogar hilfreicher sein, als jeder Fortschritt.

Rückschritt oder Anspruch? Wenn das Ego spricht

Wenn man sich im Leben an einen gewissen Standard gewöhnt hat, ob Wohnung oder Beruf, fällt es schwer, diesen wieder loszulassen. Manchmal kommt es einem fast unmöglich vor. Aber das ist es nicht. Eigentlich passiert das alles nur in unserem Kopf, denn da regiert manchmal das Ego etwas zu herb und wenig einfühlsam. Das eigene Ego verkraftet es in den seltensten Fällen, dem Schulfreund zu erklären, dass man die Managerposition gegen einen kreativen Teilzeitjob eingetauscht hat. Komisch. Dabei fühlt sich der Fakt so toll an, einzig die Erzählung erweckt ein flaues Gefühl im Magen. Ganz egofrei können wir nicht leben. Wir müssen manchmal nur die richtigen Situationen einschätzen, um das Ego auszufahren und diesen netten Begleiter unseres Lebens nicht über uns bestimmen lassen.

Rückschritt oder Anspruch?

Wer – besonders angesichts der Inflation – in eine kleinere Wohnung gezogen ist oder das Auto gegen ein günstigeres (oder einfach gegen das Fahrrad) eintauschte, wird sich sicherlich erst einmal mit dem Gedanken „Rückschritt“ befasst haben. Dabei war es eine rein finanziell kluge Entscheidung und bietet enorm viele Möglichkeiten, die sich im Nachgang positiv auswirken können: ob auf dem Konto oder im Kopf. Gleichzeitig heißt es nicht, dass wir nie wieder Auto fahren oder in einem großen Haus wohnen. Rückschritte sind temporär – wenn wir es so wollen.

Rückschritt, Stillstand, Fortschritt: All diese Worte lassen sich sicherlich kategorisch in verschiedene positive und negative Schubladen stecken.

Ich kenne mittlerweile einige Menschen, die einen anderen Job gewählt haben, der für die Gesellschaft schnell als Downgrade betitelt werden könnte.  Dabei haben sie sich in keinster Weise verschlechtert, sondern sich für einen anderen Ankerpunkt im Leben entschieden und ihre Prioritäten neu definiert. Sei es mehr Freiheit, mehr finanziellen Spielraum oder einfach mehr Seelenfrieden.

Sich einfach weniger wünschen

Downshifting: Sich bewusst weniger zu nehmen oder zu wünschen, ist demnach kein Rückschritt. Sondern einfach eine Veränderung. Wir leben nun mal in der Gegenwart, und wenn wir immer so überdurchschnittlich eingenommen an der Vergangenheit festhalten, könnten wir in allem einen Rückschritt sehen. Und uns verrennen. 

Meine Freundin, die wieder in eine kleine, sehr feine, Ein-Zimmer-Wohnung gezogen ist, nachdem sie mit ihrem (sorry, schrecklichen) Ex-Freund in einer 130-Quadratmeter-Wohnung gewohnt hat, scheint mir glücklicher denn je. Sie hat ihren Seelenfrieden gegen ein paar Quadratmeter und einer zentraleren Lage eingetauscht, sie vermisst aber keinen Zentimeter. Was andere sehen? Einen wohnlichen Rückschritt, eine vermeintliche „Verschlechterung“. Was man aber eigentlich sehen kann? Eine Frau, die nie glücklicher war. 

Wer ein paar Schritte zurückläuft, holt vielleicht nur Anlauf für einen sehr weiten Sprung. Oder findet einfach Gefallen an diesem Platz. 

Übrigens: Das Internet bietet das Wort Heimkehr als Synonym für Rückschritt an. Ein schöner Gedanke.

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2 Antworten zu “Die unbegründete Angst vor dem Rückschritt”

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