Der Traum von einem freien Iran: Wieso wir jetzt nicht still werden dürfen

21. Februar 2023 von in

Meine Wurzeln liegen im Iran. Beide Elternteile haben das Land verlassen, noch bevor sie die Volljährigkeit erreichten. Ein großer Teil meiner Familie lebt also seit über 35 Jahren hier in Deutschland. Die Koffer, die einst mit Zuve​​rsicht auf eine Rückkehr gefüllt waren, packten sie schon vor vielen Jahren endgültig aus. Bereits in meiner Kindheit träumte ich davon, das Land, dessen Sprache ich spreche, dessen Kultur und Herzlichkeit ich liebe, zu erleben. Erst später verstand ich, wieso ich meinen Wurzeln nicht nachreisen durfte. Ich verstand, wie für meine Großeltern aus dem einst schönsten Fleck der Erde ein schrecklicher, unmenschlicher Ort zum Leben wurde. Ich verstand, dass sie sich nicht gegen ihr Heimatland, sondern für Freiheit und Sicherheit entschieden. Und seit dem Beginn der Revolution im Iran ahnt es vielleicht auch der Rest der Welt.

Der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini löste die wohl wichtigste Protestwelle in der Geschichte Irans aus. Aus Protesten entwickelte sich eine feministische Revolution. Zum ersten Mal erkannte die Welt den wahren Kern des Landes und sah die Missstände. Doch plötzlich ist es so still geworden. Im Iran nicht.

Bei den anhaltenden Protesten geht es um Grundrechte. Übergeordnet steht die Gleichstellung der Geschlechter. Nach fünf Monaten Protest sind die Menschen im Iran zwar erschöpft, aber Aufgeben kommt nicht infrage.

Wieso wir nicht leiser werden dürfen

Es ist völlig normal, dem Anfang großer Weltgeschehnisse besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ebenso ist es natürlich, dass diese Zugewandtheit zwischen all den anderen Ereignissen mit der Zeit abflacht. Für Iraner*Innen ist die anhaltende weltweite Aufmerksamkeit allerdings der einzige Weg zum Ziel. Deshalb dürfen wir jetzt nicht aufhören. Seit fünf Monaten protestieren die tapferen und willensstarken Menschen im Iran gegen die Regierung. Besonders die Frauen, denen dort seit 44 Jahren einfache Grundrechte verwehrt werden, treiben diese Revolution heute an. Mit ihnen an ihrer Seite: ihre Brüder, Väter und Söhne.

Kurz nach Anfang der Proteste habe ich den Kommentar „Ich wusste gar nicht, dass du dem Land so zugewandt bist“, zu hören bekommen. Auch wenn mich diese Aussage in irgendeiner Art sauer gemacht hat, konnte ich sie verstehen. Vorher hatte ich kaum über den Iran gesprochen. Höchstens bei der Frage nach meiner „richtigen Herkunft“ oder dann, wenn ich mir die Geschichten meiner Großeltern anhörte. Ich wusste oft nicht, was ich sagen soll. 

Deshalb hätte ich auch nicht gedacht, dass mich die Situation im Iran so mitnimmt. Dass ich die Revolutionshymne „Baraye“ nicht hören kann, ohne mindestens einmal zu weinen. Die Revolution brachte mich meinen Wurzeln so nah wie nie zuvor. Ich erkannte, wie dringend diese Proteste waren und dass viel, viel mehr dahinter steckte, als eine aufgezwungene Kleiderordnung. Ich erkannte die Qualen, denen die Menschen dort seit 44 Jahren ausgesetzt sind. Daher muss und möchte ich immer weiter darüber sprechen, über die Missstände, aber auch über die positiven Entwicklungen, die so langsam aber sicher durchschimmern.

 

 

 

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Ein Beitrag geteilt von Gilda Sahebi (@gilda_sahebi)

Die aktuelle Lage im Iran

Die aktuelle, vermeintliche Stille könnte den Anschein erwecken, die Proteste im Iran hätten sich beruhigt. Das Leben würde dort wie gewohnt – unterdrückt und fremdbestimmt – weitergehen. Ein Trugschluss. Zwar hat sich die Anzahl der Protestierenden verringert, allerdings nur, weil die Regierung diese ausdünnt. Festnahmen, Gewalttaten und Hinrichtungen bei den kleinsten Protesten dienen zur Abschreckung. Damit konnten sie einen kleinen Teil der Ausschreitungen stoppen, die stillen Proteste sind jedoch lauter denn je.

 

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Ein Beitrag geteilt von Susan Zare (@susanzare.de)

Zwischen Hoffen und Bangen: Was passiert derzeit?

Erst vor wenigen Tagen wurde einer der bekanntesten iranischen Regisseure, Jafar Panahi aus dem berüchtigten Ewin-Gefängnis in Teheran auf Kaution freigelassen, nachdem er 2022 wegen »Propaganda gegen die Regierung« festgenommen wurde. Er trat in einen Hungerstreik, der ihn fast das Leben kostete.

Dem iranischen Sänger Shervin Hajipour wurde Anfang Februar ein Grammy für seinen Song „Baraye“ (auf Deutsch: „Für“) verliehen. Auf die Auszeichnung antwortete er mit: „Wir haben gewonnen“, eine seltene und wichtige Message des Sängers. „Baraye“ hatte sich schnell zur Hymne der Protestbewegung entwickelt. Shervin wurde nach der Veröffentlichung inhaftiert und schweigt seit seiner Freilassung. Die Gründe für seine Stille sind denkbar.

Ein weiterer Fortschritt: Vor einigen Wochen stimmte das Europaparlament mit großer Mehrheit dafür, dass die iranischen Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste gesetzt werden soll. Auch dafür hat besonders die internationale Aufmerksamkeit gesorgt.

Tagesaktuelle Fotos auf Teherans Straßen zeigen Frauen – ohne Kopftücher. Frauen mit auffälligem Make-up. Frauen, die auf offener Straße andere Frauen küssen. Lachend, rauchend, frei. Es scheint fast schon normal, doch all das ist immer noch strafbar im Iran und kann für sie den Tod bedeuten. Die neuesten Bilder sind schön und erschreckend zugleich, denn sie stellen auch die Folgen der Proteste dar. Die Augenklappe der jungen Frauen zeigt die Gewalt, mit der das Regime im Iran den friedlich Protestierenden absichtlich mit Schrotkugeln ins Gesicht schoss. Ein weiterer Versuch der Einschüchterung.

 

 

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Ein Beitrag geteilt von Natalie Amiri (@natalie_amiri)

Umgeben von heroischen Protestanten feiert die iranische Regierung am 11. Februar den 44. Jahrestag der islamischen Revolution. Bilder aus dem Iran zeigen: wenig Feiernde, viele Protestierende. Ein weiteres wichtiges Signal.

All das sind gute Nachrichten. Zum ersten Mal erkenne ich einen strahlenden Hoffnungsschimmer in den Augen meiner Familienangehörigen und Bekannten und auch ich selbst spüre es.

Falsche Meldungen sollen Situation beruhigen

Staatsmedien ließen im Rahmen der „Feierlichkeiten“ zum Jahrestag verlauten, dass Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei Zehntausende Gefangene begnadigt haben soll. Darunter auch Demonstrant*innen, die während der jüngsten Protestwelle inhaftiert wurden. Eine Information, die nie von unabhängigen Quellen bestätigt wurde und ebenso gut (und sehr wahrscheinlich) dazu dienen sollte, den Westen zu entspannen.

Aktuell heißt es also: Das System der Regierung bröckelt, trotz der krampfhaften Versuche, die Protestierenden verstummen zu lassen. Die Proteste halten all dem stand. Sie brauchen nur weiterhin unsere Aufmerksamkeit.

Nach Einschätzung von Menschenrechtlern sind seit Beginn der Protestwelle im September 2022 mehr als 500 Menschen getötet worden. Fast 20.000 Demonstranten wurden seither festgenommen. Was die Frauen und Männer im Iran durchmachen mussten und immer noch müssen, ist für mich unbegreiflich. Nicht selten bewegt mich dieser Gedanke noch in den Schlaf.

Iraner*innen in Deutschland: zwischen Machtlosigkeit, Stolz, Zuversicht und Sehnsucht

Als die Proteste im September 2022 begannen, änderte sich plötzlich die Stimmung aller Iraner*innen weltweit. Diesmal war es anders. Losgebrochen von den bekannten Gefühlen wie Wut und Trauer, gefolgt von plötzlicher Zuversicht, das alles könnte der Anfang vom Ende sein. Nie war das Ziel näher und gleichzeitig ferner als heute. Das Heimatland wieder besuchen, die Familien in die Arme nehmen, gemeinsam mit ihnen schwarzen Tee trinken, Datteln im Garten genießen und die Luft am Kaspischen Meer auf der Haut spüren.

Alle, die eine direkte oder indirekte Verbindung zum Iran haben, kleben seit fünf Monaten regelrecht an ihren Smartphones und gieren nach neuen Informationen. Die gekappte Internetverbindung erschwert den Kontakt mit den Familien, macht ihn teilweise fast unmöglich. Zwischen all den Protesten und Todesurteilen keine Nachricht von den Liebsten zu erhalten, lässt die Sorge unerträglich werden. Da die Hinrichtungen im Iran in den frühen Morgenstunden, kurz nach dem Ruf zum Morgengebet, stattfinden, greifen viele Iraner*innen morgens sofort zum Handy, um zu prüfen, ob weitere Todesurteile vollstreckt wurden. Zwischen der absoluten Zuversicht tummeln sich auch Schuldgefühle, Sorgen und Ängste. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die allerdings nur zeigt, wie nah das Ziel ist. Die Proteste sind nicht einfacher geworden, nicht viel weniger, nicht ruhiger. Jedoch stärker, bedeutender und wichtiger denn je. 

Dieses Gefühlschaos betrifft auch mich. Keine der Nachrichten – egal ob gut oder schlecht – kann ich einfach hinnehmen. Entweder breche ich in Tränen aus, werde wütend oder freue mich über einen Fortschritt. Und das, obwohl ich den Iran nur aus Geschichten kenne. Manchmal traue ich mich gerade deswegen nicht, meine Traurigkeit über die Situation auszusprechen. Was sollen denn diejenigen sagen, die all das hautnah miterlebt haben? 

Ich glaube, ich kann für einige in Deutschland geborene Iraner*innen sprechen, wenn ich sage, dass mir das Ausmaß der Unterdrückung nicht im Ansatz bewusst war. Vielleicht liegt es daran, dass mir meine Familie größtenteils die schönen Geschichten – also alles, was vor der islamischen Revolution geschah – erzählte. Oder daran, dass der Austausch mit dem anderen Teil meiner Familie, der noch im Iran lebt, immer so knapp ist, dass kein Platz für Kummer bleibt. Vielleicht liegt es aber einfach daran, dass es für sie keine nennenswerte Besonderheit, sondern trauriger Alltag war. Umso schöner sind die Veränderungen, die die Bürger:innen im Iran gerade selbst erschaffen und uns hier alle vor Stolz fast platzen lassen.

Was wir tun können?

Die Aufmerksamkeit und das Teilen von Beiträgen gehört zu der größten Unterstützung, die wir hier leisten können. Weiterhin hilft es, Petitionen zu unterschreiben und Abgeordnete aus den eigenen Wahlkreisen dazu aufzurufen, sich öffentlich einzusetzen. Ebenso kann die Teilnahme an öffentlichen Demonstrationen und Kundgebungen viel bewirken.

Wer immer über die aktuelle Lage im Iran informiert bleiben möchte, kann sich folgende wichtige und großartige Accounts anschauen:
Daniela Sepehri
Joko Winterscheidt
Natalie Amiri
Shahrzad Eden Osterer
 Masih Alinejad
Düzen Tekkal
Nazanin Boniadi
Azam Jangravi
Susan Zare
from____iran
Golshifteh Farahani
Gilda Sahebi 
 Avin Khodakarim

Organisationen:
Middle East Matters (MEM)
HÁWAR.help
Amnesty International Iran

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