Der Fall Sarah Everard – oder: Was Männer tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen
Photocredit: @mentalhealthwarriors_
Es wirkt schon fast ein bisschen absurd, dass ausgerechnet vergangene Woche wirklich eine katastrophale war. Nicht für mich persönlich, aber für uns Frauen. Eine Woche, die aufgezeigt hat, in was für einer patriarchalen Welt wir immer noch leben, welchen Gefahren Frauen immer wieder ausgesetzt sind und warum #notallmen am Ende nur mehr eine Phrase ist. Und das ausgerechnet in der Woche des internationalen, feministischen Frauenkampftages. Genau in dieser Woche zeigte die Welt wieder einmal, was für eine Katastrophe sie für Frauen sein kann.
Dass die meisten Frauen am Weltfrauentag nicht mehr als Glückwünsche und Rosen bekommen, gehört ja fast schon zur Regel. Und so liegt es auch an uns, den Finger immer wieder in die Wunde zu legen und uns nicht mit Blümchen und einem „Diese Frauen machen die Welt ein Stückchen besser“-Artikel abspeisen zu lassen. Amelie zeigte in ihrem Artikel wunderbar auf, in wie viele Bereichen wir Frauen immer noch diskriminiert werden – und warum Rosen hier nun wirklich nicht helfen. Sorry, Jungs, es ist Zeit, dass wir ein Team werden.
Aber damit nicht genug. Erst entsetzte mich die Misogynität, die erneut der Schauspielerin Meghan Markle entgegengebracht wurde, nachdem das Interview mit Oprah Winfrey Seine Runde machte. Egal, was man von Meghan & Harry halten mag, wie gut oder schlecht man das Interview fand, zuallererst hört man einer Frau zu, die von Rassismus-Vorwürfen und Selbstmordgedanken spricht. Doch stattdessen zweifelte das Internet mal wieder die Wahrheit der Worte einer Frau an, stellte Harry als wehrlosen Mann dar, der unter ihrer Fuchtel steht und nannte sie attention-seeking. Wann lernen wir endlich zuzuhören?
Die nächste Nachricht: Gegen den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt läuft ein Ermittlungsverfahren wegen unguten Verhaltens gegenüber seinen weiblichen Angestellten. Und man möchte fast sagen: Mich wundert vieles, aber das nun wirklich nicht. Klar, im Zweifel für den Angeklagten, ein internes Compliance-Verfahren soll alle Hintergründe klären, aber Sexismus in der Redaktion einer Zeitung, die sonst auch in ihrer Berichterstattung gerne mal misogyn und sexistisch unterwegs ist, liegt jetzt nicht so fern. Auch gegen Reichelts Vorgänger Kai Diekmann gab es bereits Vorwürfe. Überraschung sieht also anders aus.
Genauso wie ich wenig überrascht war zu hören, dass unsere lieben Politiker uns einerseits mit Rosen-Bildern in den sozialen Medien einen wundervollen Frauentag wünschten, gleichzeitig aber enthüllt wurde, dass viele von ihnen sich mit – nicht ganz so genehmigten – Nebeneinkünften die Taschen voll machen. Noch mehr Geld, natürlich. Während tausende Familien irgendwie versuchen, durch die Pandemie zu kommen, zahlreiche Frauen an vorderster Front unterbezahlt den Laden aka Krankenhaus und Pflege schmeißen und viele andere Frauen dank Lockdown noch mehr unter häuslicher Gewalt leiden. Wow.
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Und als wäre das alles nicht schon schockierend und vor allem – und ich sags mal wie es ist – zum Kotzen, machte mich das Verbrechen an der 33-jährigen Sarah Everard aus London sowas von traurig und betroffen. Vielleicht, da mir ihr tragischer Fall vor Augen führte, was für mich und viele andere Frauen der größte Albtraum auf dem Nachhauseweg ist.
Die 33-Jährige besuchte eine Freundin nach der Arbeit und machte sich nach 21 Uhr zu Fuß auf den Heimweg. Auf dem Nachhauseweg telefonierte sie noch mit ihrem Freund, dann verlor sich ihre Spur. Wenige Tage später fand man ihre Leiche in einem Wald. Festgenommen wurde ein Polizist. Ein ihr fremder Mann. Und Sarah Everard ist das passiert, was Frauen jeden Abend, jede Nacht, wann immer sie auf dem Heimweg sind, alleine unterwegs sind, fürchten. Es ist unser schlimmster Horror – und wir leben tagtäglich mit dieser Angst.
Tagtäglich leben wir aber auch mit mit all den Männern, die natürlich auf diesen Vorfall und die große Solidaritäts-Welle von Frauen in den sozialen Medien mit „#notallmen“ antworteten. Ja, nicht alle Männer sind eine Bedrohung für Frauen. Nur wisst ihr was, liebe Männer: Wir können nicht wissen, wer von euch so eine Scheiße macht. Deswegen tragen wir die Angst immer ein bisschen mit uns. Egal, welcher Mann nachts hinter uns läuft.
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All das macht mich wütend. So wütend. Und auch hilflos. Weil sich gefühlt nichts ändert. Oder um es mit den Worten von Kristina Lunz zu sagen: „Wir werden weiter kämpfen. Aber gerade habe ich keine Ahnung, woher ich noch mehr Energie nehmen soll.“
Denn alleine zu kämpfen bringt uns so gut wie nichts. Die Solidarität unter Frauen ist die meiste Zeit ungebrochen. Wir verstehen einander, wir wissen, wie es sich anfühlt, die Angst immer mit uns zu tragen, besonders nachts auf dem Nachhauseweg – wie Noelle es auch ironischerweise diese Woche so treffend beschrieb. Männer werden dieses Gefühl nie ganz verstehen. Aber sie müssen endlich anfangen, uns zuzuhören, Empathie zu entwickeln und vor allem ihren Geschlechtsgenossen Grenzen aufzuzeigen. Immer dann, wenn’s unangenehm wird.
Denn während die meisten Männer völlig unbedarft nachts vom Club heimstolpern oder nach einem Abend mit Freunden nach Hause gehen, läuft bei uns Frauen auch im Jahr 2021 immer noch die Angst mit. Wir sind vorbereitet auf den Ernstfall. Wir laufen extra gut beleuchtete Straßen, wir meiden Unterführungen und halten immer unseren Schlüssel wie unser Handy in der Hand. Mit beiden Kopfhörern im Ohr wird man uns im Dunkeln selten antreffen, genauso wie an einem einsamen Feldweg. Dafür kennen wir Pfefferspray und die richtigen Handgriffe, falls doch etwas passieren sollte. „Aber ich habe auch manchmal Angst im Dunkeln“, ruft vielleicht jetzt irgendein Justus im großen, weiten Internet. Das mag sein. Aber es wird niemals vergleichbar sein mit dem Gefühl von uns Frauen. Einer „gesunden Skepsis“ und Angst, die uns seit der Kindheit eingetrichtert wurde, weil sie nun mal nötig ist. Das zeigt der Fall Sarah Everard und das zeigen die unzähligen Erfahrungen, in denen Frauen von Männern bedroht oder angegriffen wurden, die gerade auf Social Media kursieren.
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So ist es an der Zeit, dass nicht mehr nur wir Frauen alle Eventualitäten miteinkalkulieren, der Angst immer ihren Raum geben und uns vorbereiten. Sondern es liegt auch an euch Männern, zu lernen, dass auch ihr euren Teil dazu beitragen könnt, dass Frauen sich sicherer fühlen. Tagsüber. Nachts. Zu jeder Zeit. Und damit meine ich nicht nur Stadtplaner*innen, die Straßen und Wege in Orten so planen, dass sie einsehbar und sicher sowie gut beleuchtet sind. Sondern das Verhalten jeden einzelnen Mannes. Denn es gibt sie ja, die Männer, die keine Täter sind, sondern es einfach nur nicht besser wissen.
Und deshalb kommen hier die gesammelten Tipps aus der vergangenen Woche, was Männer gerade nachts tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen.
1. Halte Abstand in der Nacht
Es mag für dich absurd klingen und du hast vielleicht auch einen schnellen Schritt: Aber solltest du nachts im Dunkeln hinter einer Frau laufen, halte Abstand. Je näher mir ein unbekannter Mann kommt, desto mulmiger wird mir. Zu konditioniert ist das Gefühl der Angst. Je mehr Abstand zwischen mir und dem Unbekannten ist, desto besser. Und wenn du doch überholen willst, wechsle einfach die Straßenseite. Ja, auch dann, wenn es bedeutet, dass du einen Umweg machen musst.
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2. Gib Entwarnung
Auf TikTok fragte diese Woche ein junger Mann, was er denn tun könne, wenn er doch an einer Frau nachts im Dunkeln vorbei müsse. Der beste Hinweis von Frauen an ihn: gib Entwarnung. Wer nämlich wirklich eine Frau nachts im Dunkeln überholen muss und keine andere Straßenseite zum Wechseln hat, kann mit wenigen Worten dafür sorgen, dass er zu seinem Ziel kommt und die Frau nicht vor Angst umkommt. „Hab keine Angst, ich muss nur in die selbe Richtung wie du“ oder „Ich überhole dich gleich, du brauchst keine Angst haben“ sind Sätze, die vielleicht auf den ersten Blick merkwürdig wirken, aber gleichzeitig der Frau zeigen: Hier ist jemand, der meine Gefühle ernst nimmt und alles tut, damit ich mich nicht unwohl fühle. Am besten schon aus etwas Entfernung rufen, und nicht erst auf Augenhöhe ins Ohr flüstern. Gern geschehen.
3. Lass das anstarren
Man lernt es eigentlich schon im Kindergarten: Menschen anzustarren ist unhöflich. Nachts in einer leeren U-Bahn kann das unangenehme Anstarren aber zu wahren Angstattacken führen. Dann, wenn man als Frau fast alleine im Waggon sitzt und von einem fremden Mann angestarrt wird. Denn wir wissen nicht, ob ihr gerade euren Gedanken nachhängt und eigentlich beim großartigen erlebten Abend seid, oder ob ihr uns bereits sexuell belästigt. Indem du als Mann ins Handy guckst oder aus dem Fenster, deine Aufmerksamkeit also anderen Dingen als der einzigen Frau im Waggon widmest, wissen wir als Frau: Fehlalarm. Ahja – und wenn du an der selben Haltestelle raus musst: halte Abstand.
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4. No catcalling, please!
„Ist doch nur Spaß, hahaaha.“ Danke für nichts! Wer nachts alleine im Dunkeln unterwegs ist und sich einen „Spaß“ von einem fremden Mann – oder schlimmer – einer Gruppe von fremden Männer anhören muss, lacht mit Sicherheit nicht mit. Nein, als Frau ist diese Situation nur unangenehm, abstoßend und angsteinflössend. Also lass es einfach. Catcalling gehört abgeschafft, und das übrigens nicht nur nachts. Anzügliche Witze oder sexistische Kommentare gehören nirgendwohin, außer in den Mülleimer.
5. Nimm deine Jungs in die Verantwortung
Wo wir beim nächsten Thema sind: Vielleicht bist du ja der Mann, der bereits feministisch denkt, Catcalling unglaublich widerlich findet und das Verhalten vieler Männer in Frage stellt. Aber sagst du es auch? Nimm deine Jungs in die Verantwortung, wenn du merkst, sie reden schlecht über Frauen, sie machen sexistische Witze oder belästigen sogar Frauen. Sprich ein ernstes Wort mit ihnen, wenn du merkst, sie nutzen Frauen beim Dating nur aus oder machen Scherze auf Kosten des weiblichen Geschlechts. Wir brauchen Männer, die sich endlich auf unsere Seite stellen und ihren Kumpels sagen: So geht es nicht.
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6. Hör den Frauen zu und schenk ihnen Glauben
Wann immer euch eine Frau erzählt, sie sei von einem euch bekannten Mann belästigt worden: Glaubt ihr. So schwer es euch fallen mag. Die Überwindung, sich als Frau jemanden anzuvertrauen, ist riesig. Und viel zu oft wird Opfern nicht geglaubt. Beispielsweise hält sich immer noch das Märchen, dass viele Vergewaltigungen erfunden seien, dabei ist die Zahl der falschen Verdächtigungen verschwindend gering, vor allem wenn man die Dunkelziffer der nicht angezeigten Vergewaltigungen miteinkalkuliert. Wann immer sich ein Opfer euch anvertraut, glaubt ihm erstmal und bietet eure Hilfe an.
Wir Frauen haben – und das denke ich, ist noch wichtig zu sagen – zwar nachts alleine die größte Angst und fürchten wahre Horrorszenarien, doch die meisten Gewaltverbrechen, Femizide sowie sexuellen Übergriffe finden immer noch im engen Umfeld von Frauen statt. Die größte Gefahr einer Frau ist statistisch gesehen nicht der unbekannte Mann im Gebüsch, sondern der eigene Mann, der Ex-Freund oder ein anderer Bekannter, mit dem wir in einer zwischenmenschlichen Beziehung durch Job oder Freundeskreis stehen. Und umso wichtiger ist es, dass wir uns Menschen anvertrauen können und uns geglaubt wird, wenn uns nahestehende Personen Gewalt antun.
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7. Zivilcourage ist ein Muss
Zivilcourage ist ein großes Wort, aber ich sag’s wies ist: Wenn ein Mann mitbekommt, dass eine Frau nachts (oder auch tagsüber) belästigt wird, muss er eingreifen. Denn er kann sich im besten Fall körperlich zur Wehr setzen, im schlechtesten Fall werden er und seine Bedürfnisse vom Gegenüber wahrgenommen und respektiert. Im Gegensatz zu dem der Frauen. Und so erwarte ich, dass Männer Frauen zur Seite stehen, wenn sie in einer brenzligen Situation sind. In der leeren U-Bahn kann es ein „Ich habe bemerkt, dass dieser Mann dich belästigt und deswegen setze ich mich jetzt in deine Nähe, damit du dich sicherer fühlst“ sein. Oder du setzt dich einfach ins Blickfeld des Mannes, der die Frau belästigt, um seine Sicht zu versperren. Es kann aber auch die einfache Nachfrage „Bist du okay? Brauchst du Hilfe?“ sein. Oder einfach ein lautes „Lassen Sie die Frau in Ruhe“. Hauptsache, Frauen in solch einer schrecklichen Situation merken: Hier ist jemand, der erkennt die Gefahr und ist an meiner Seite. Und ja, das hilft.
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8. Rede darüber, immer wieder, vor allem mit deinen Jungs
Und zu guter Letzt: Auch wenn einem als Mann all diese Gedankengänge völlig fremd sind, dir manches übertrieben vorkommt, nimm es ernst. You’re not walking in our shoes. Und sprich über diese Themen und Problematiken mit deinen Freunden. Kläre sie auf, schärfe ihr Bewusstsein und halte sie dazu an, sich ebenfalls künftig nachts anders zu verhalten. Wenn ihr #notallmen meint, lebt es auch. Indem ihr unsere Teampartner werdet und die Welt für uns ein Stückchen sicherer macht.
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Eine Antwort zu “Der Fall Sarah Everard – oder: Was Männer tun können, damit sich Frauen sicherer fühlen”
Sehr sehr guter Beitrag. Es ist fast schon erschreckend wie ich in meiner Anfangszeit des Weggehens immer geglaubt habe, dass es einfach eben so normal ist, dass man so tut als würde man telefonieren, rennt auf dem Nachhauseweg oder eben oft noch schnell eine Leggings über die nicht-blickdichte Strumpfhose zieht. Wie oft hätte ich gerne das neue tolle Kleid getragen im Sommer zum Feiern gehen, mich aber dann doch für eine lange Hose entschieden, weil ich Angst hatte alleine darauf angesprochen zu werden oder noch schlimmeres passiert. Und immer mit Pfefferspray in der Handtasche unterwegs. Das sollte nicht so sein. Danke für den Beitrag!