Das plötzliche Provinz-Prestige: Quarantäne auf dem Dorf

30. April 2020 von in

Wenn man mal ehrlich ist, dann befindet sich meine Familie schon seit mindestens sechs Generationen in Quarantäne. So weit kann man meinen kartoffeligen Stammbaum auf das Dorf im Süden Hessens – knapp 300 Einwohner*innen – zurückverfolgen, in dem ich gerade auf der Couch sitze. Mit diesem Fakt war ich seit langer Zeit nicht mehr so im Reinen wie gerade – denn ich erlebe es gerade zum ersten Mal, dass Menschen mich um diesen Ort beneiden.

In einem derartig winzigen Dorf zu leben hat wenige Vorteile und viele Nachteile, die je nach Lebensabschnitt an Gewicht gewinnen oder verlieren. Bis ich ca. 13 Jahre alt wurde, war es herrlich: Ich konnte kaum laufen, da bin ich schon alleine durch die Pampa gesprungen, habe Tiere auf Bauernhöfen besucht und mit meinen Freund*innen Staudämme gebaut. Spätestens aber, als sich mir der Sinn einer Busverbindung erschloss (die wir nicht hatten) und ich das plötzliche Bedürfnis verspürte, Zeit in Einkaufszentren totzuschlagen, wurde es ziemlich nervig. Und das blieb es erst mal auch. Wenn ich mit 16 mit meinen Freund*innen Mischbier auf öffentlichen Plätzen trinken und dabei schlimme Musik aus Handylautsprechern hören wollte, musste meine Mutter mich mit dem Auto ins nächste Dorf zur Bushaltestelle fahren. Ich saß eine Stunde in öffentlichen Verkehrsmitteln und musste um 23 Uhr wieder gehen, um den letzten Bus zu bekommen und manchmal noch eine knappe Stunde durch den Wald nach Hause zu laufen.

Der allbekannte Fluchtimpuls

Natürlich überkam mich nach meinem Abschluss sofort der allbekannte Fluchtimpuls, und nur wenige Wochen nach dem Abiball saß ich in einer Wohnung mitten auf der Neuköllner Sonnenallee. Das war gruselig und ungewohnt, aber auch aufregend und neu. Und es folgte die hochnäsige Phase, die alle ehemaligen Dorfkinder durchleben, wenn sie den Absprung schaffen – in der man denkt, man wäre etwas Besonderes, weil man keine Schützenfeste mehr besucht und sich den Dialekt abtrainiert hat. Lange war der einzige Vorteil meiner Herkunft für mich der, dass ich beim Smalltalk-Partyspiel „Wer kommt aus dem kleinsten Kaff?“ immer gewonnen habe. Tja, und dann kam Corona.

Es war der erste Tag der Ausgangssperre, als ich in einen Transporter stieg und mich sowie mein Hab und Gut zurück zu meinen Eltern in die Provinz bugsierte. Das Ganze fühlte sich ziemlich illegal und verwegen an – ein bisschen Mad-Max-mäßig, wie ich alleine über die leergefegte Autobahn bretterte. Dieser Umzug war schon länger geplant – als Zwischenstation, weil ich wieder zurück nach Berlin ziehen möchte und von zu Hause Wohnungssuche betreiben wollte. Was ein kurzer Zwischenstopp werden sollte, hält nun schon knapp einen Monat an und wurde zur angenehmsten Quarantänesituation, die man sich vorstellen kann. Denn beinahe alles, was mich an diesem Dorf nervt, seit ich ein edgy Teenager war – keinerlei Events, kaum Kontakt nach außen, lange Wege, nichts als Wälder weit und breit –, ist nun plötzlich wertvoll und wunderbar.

How the tables have turned!

Und jetzt lebe ich wieder das Leben, das ich als Zwölfjährige in den Sommerferien geführt habe: Ich schlafe aus, spiele Sims (früher: Sims 2, heute: Sims 4), hänge im Internet rum (früher: Knuddels, heute: Twitter), warte auf’s Abendessen und helfe meinen Eltern bei irgendwelchen Aufgaben (früher: Gartenarbeit, heute: Gartenarbeit). Mindestens zweimal am Tag gehe ich mit dem Hund raus. Dabei muss ich weder auf Schutzkleidung noch auf Mindestabstand achten, denn ich treffe nie irgendwen. Hier gibt es keine Clubs, Restaurants oder Cafés, die ich vermissen könnte. Mit meinen Freund*innen hier gehe ich genauso wie vorher einfach draußen (mit Abstand) spazieren – etwas Besseres zu tun gab es vorher auch nur selten. Und dafür werde ich plötzlich nicht mehr bemitleidet, sondern beneidet. How the tables have turned!

Corona hin oder her: Nach knapp einer Dekade in engen WG-Zimmern und mockigen S-Bahn-Abteilen stellt sich auch bei mir schon seit einiger Zeit  – wie bei jedem ehemaligen Dorfkind – eine gewisse Nostalgie ein: Plötzlich sieht man, wie grün die heimischen Wiesen wirklich sind, und sie sind viel grüner als im Stadtpark. Man fängt an zu phantasieren: Vielleicht kann man ja doch zurück kommen, irgendwann, und Marmelade kochen und Brot backen und einen Garten haben und einen Hund. Bis man dann beim Heimatbesuch auf den Dorfnazi trifft und es sich wieder anders überlegt. Denn natürlich gibt es auch einige Nachteile am Dorfleben, die nichts mit der Abgeschiedenheit zu tun haben und die mich bis heute davon abhalten, eine Rückkehr ernsthaft in Betracht zu ziehen: eine höhere Verbreitung von Spießbürgerlichkeit, das Getratsche und ein paar ziemlich kleine Horizonte, mit denen man ständig konfrontiert wird. Fehlende Diversität. Alles ist sehr deutsch. Ihr wisst schon.

The best of both worlds

Aber jetzt, durch Corona, überwiegen die Vorteile auch für mich zum allerersten Mal seit einer sehr langen Zeit. Und bin so dankbar wie noch nie, dass ich Zugang zu beiden Welten habe: Der wuseligen Großstadt und dem scharchigen Dorf. Liebes Kaff, es tut mir Leid, dass ich gemein zu dir war! Ich bin so froh wie nie, dass es dich gibt. Und auch, wenn ich es trotzdem kaum erwarten kann, mich wieder in überfüllte U-Bahnen quetschen zu dürfen, bin ich dankbar und sehr, sehr froh darüber, hier durch die Pampa springen zu können, bis es soweit ist – und dabei zum ersten Mal auch noch beneidet zu werden.

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Eine Antwort zu “Das plötzliche Provinz-Prestige: Quarantäne auf dem Dorf”

  1. Das hast du sehr schön geschrieben und beschrieben. Als Landei kann ich das ja wohl hervorragend beurteilen! Wobei Ich davon ausgehe, dass du das „schnarchige“ Dorf meinst und nicht ein (mir unbekanntes) „scharchiges“ Dorf. Oder ist das ein original hessischer Begriff?
    Viele Grüße von Dorf nach Dorf, Michael :-)

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