„Da bist du endlich wieder!“ – Ein warmer Liebesbrief an den Winter

22. November 2023 von in

Meine Füße ragten noch aus einem Kinderwagen heraus, als ich das erste Mal verstand, wie sehr ich den Winter mag, wie sehr mich der Charakter des Winters begeistert. Ich wurde durch die Innenstadt geschoben, doch für mich fühlte es sich eher an, wie die Definition eines Winter-Wonderlands. Seither weiß ich: Der Winter ist verdammt noch mal nicht nur aus Kevins Sicht in New York wunderschön! Der Winter ist auch nicht nur zwischen den Feiertagen schön und auch nicht nur an Silvester! Er ist es auch zwischendurch. Es folgt: ein Liebesbrief an die himmlischste Saison des Jahres. 

Für mich beginnt der Winter an dem Tag, an dem ich den Sankt Martingszug zum ersten Mal erahnen kann, weil Apotheken die Schaufenster mit Laternen dekorieren und die beiliegenden Bäckereien Duftwolken aus Weckmännern servieren. Faktisch ist das noch der Herbst, aber das macht mir nichts. An dem finalen Tag des Zuges, wenn die Luft dann bereits nach verbranntem Holz riecht und ich leise Kinderstimmen aus meinem Fenster singen und Laternen klackern höre, lege ich mich vollständig in die Arme des Winters. Jetzt kann es losgehen. 

Durch die glühenden Dekorationslichter am dunklen Nachmittag flanieren, während die kalte Luft sich durch jeden offenen Moment der Kleidung kämpft und das Laub verfrostet unter den Sohlen knirscht. Die Straßen der Innenstädte duften nach einem Zusammenspiel aus Butter, Zimt und frisch gerösteten Maronen. Fluffige Daunenjacke reiben einander und erzeugen kratzige Geräusche. Perfekt. 

Der Winter in all seinen wunderschönen Facetten

Der Winter bleibt mein Schützling. Ich bin eine überzeugte Winter-Vertreterin, mit einer Sympathie für den Sommer (aber lieber am Strand). Während allesamt sich über die triefenden Nasen, die frühe Dunkelheit, zugefrorene Autos und den Regen ärgern, denke ich an gemütliche Tage, an Bücher, die meine Gedanken erwärmen, an die Zeit, mit meinen liebsten Menschen in geschlossenen Räumen.  Ich denke an warme Getränke und kalte Nächte, daran, mir drei Pullover und Wollsocken neben meine Bettseite zu legen, damit ich am Morgen nicht zitternd aus dem Bett gleite und mich vom kalten Boden unter meinen Füßen erschlagen lasse, wobei ich selbst daran etwas romantisch finden könnte.

Und an dunkele Morgenstunden, die dazu verleiten, den ersten Kaffee unter der grob gestrickten Wolldecke zu genießen und alles ein wenig langsamer anzugehen. Ich denke an Thermobecher in matten Farben, die uns heißen Kaffee bieten. Ich denke an Wollmützen und Kapuzen auf den Straßen. An den Atem, den ich vor mir sehen kann und der meine Worte nach tanzt. An Menschen, die gemeinsam draußen auf ein Verkehrsmittel warten, sich in die Hände pusten, sie reiben und die Knie schnell überstrecken und beugen, um sich aufzuwärmen. Daran, wie sich fremde Menschen so gegenseitige Frost-Signale senden.

An die Kraft, die Menschen aufbringen, um gegen den starken eisigen Wind anzukämpfen und dabei den teils schwerfälligen Gang, den sie vollbringen. Auch an die Bahn, hinter deren zugefrorenen Fenstern Morgenmuffel noch versuchen, ihre müden Augen zu kontrollieren. Und genau so an besinnliche Momente zwischen Fremden, an lachende Augen, die zwischen einer selbst erschaffenden und schützenden Skulptur aus Schalschichten herausblitzen.

Das alles schweißt während der wunderbaren Kälte zusammen. Ihr lest es schon. Ich finde so einiges wundervoll am Winter.

Der Winter ist der Sonntag aller Jahreszeiten

Wäre der Winter ein Wochentag, dann wäre er der gelungene Sonntag. Der Sonntag, an dem wir alles herausholen und schaffen, was wir lieben, dabei aber gleichzeitig furchtbar entspannt bleiben. Der Sonntag, der uns die Last der Woche abladen und uns gleichzeitig produktiv werden lässt eben. An dem wir früh genug wach werden, um den Tag mit Kaffee und Buch im Bett zu starten, dabei merken, dass es immer noch früh genug für die Welt ist. Aber auch nicht allzu früh. Es ist schließlich Sonntag, alles ist etwas ruhiger. Im Winter steht die Welt einfach etwas stiller als sonst. Ich habe oftmals das Gefühl, einem fällt das „Erschaffen“ im Winter viel leichter, sei es die Arbeit oder ein längst aufgeschobenes Projekt. Schließlich erschafft man so viel lieber etwas, wenn es draußen stürmt und schneit, und man umhüllt von Wärme und Heißgetränken und einer zimitgen Auswahl an allem möglichen vor dem Computer sitzt, statt sich der klebrigen Hitze im Sommer auszuliefern, die man nur mit einem ungemütlichen Ausflug an einen überfüllten See ertragen kann? Den Sommer wollen wir draußen erleben, den Winter im Innen genießen.

Der Winter existiert natürlich auch in hellen Stunden, so zwischen 9 und 16 Uhr. Aber das ist nicht die magische Zeit. Die Besonderheiten der Jahreszeit ereignen sich am Morgen, am Nachmittag, am Abend. An dem der Himmel die Lichter so langsam ausknipst oder kurz davor steht, sie wieder anzuknipsen, und uns allen, die gleich kuschelige Atmosphäre zaubert. Alles fühlt sich dann so selig an. 

Winter als Umarmung

Der Winter ist deshalb so fabelhaft, weil er uns zur Ruhe zwingt. Wenn man sich nachmittags zu einem Kaffee trifft, sitzt man in einem Café, wird angeleuchtet wie auf einem (angenehmen) Präsentierteller, während die Straßen dunkel vorbeiziehen. Verabredungen auf dem Weihnachtsmarkt sorgen für kindliche Vorfreude. Alles wirkt so unwirklich gemütlich. Der Winter erlaubt es uns, unseren Liebsten noch einen Moment länger in die Arme zu fallen, um uns aufzuwärmen, um die fehlenden Umarmungen aus dem Sommer nachzuholen, denen wir uns aus Angst vor Überhitzung entzogen haben. Oder den Solo-Shoppingtrip am frühen Abend zu einem richtigen Erlebnis zu machen, weil man sich quasi immer fühlt wie in einem Film, wenn man die weihnachtlichen Melodien aus den Geschäften hört und dabei sieht, wie sich ein Pärchen glücklich unterhält und an einer Tasse Glühwein aufwärmt. 

Winter als Kleidungsstück

Auch modetechnisch hat der Winter etwas zu bieten. Meine Stiefel klackern auf dem Bordstein, der dafür eigentlich zu rutschig, zu holprig, zu unsexy, ist. Meine Schichten an Kleidung rutschen in gegen gesetzte Richtungen, die Strumpfhose hängt etwas im Schritt, fühlt sich kratzig an. Ich klebe vor Überhitzung, wenn ich den Laden betrete, ich bibbere, wenn ich ihn verlasse. Mein Haar verfilzt zwischen dem Wollschal. Doch all das wird überschattet von dem Rest: Der Pullover, den ich trage, lässt mich wieder klein sein, gibt mir Geborgenheit. Die zu langen Ärmel schmeicheln meinen Nägeln, geben mir meinen eigenen Ariana Grande Moment, nur ohne den unkomfortablen Teil.

Alles, was ich trage, fühlt sich an wie eine Schutzausrüstung, die mich vor den kalten Eindringlingen der Lüfte beschützt, aber mich auch wie ein Kokon von dem Teil der Außenwelt abgrenzt, den ich vermeiden möchte. Ich fühle mich den ganzen Tag, als hätte man mich zugedeckt, und ich würde diese Decke voller Liebe mit durch jeden noch so grummeligen Tag nehmen. Mir kann niemand etwas. Die viel zu kurzen Daunenjacken, die Teenager umhüllen und mir hektisch entgegen rasen, tun mir dann immer etwas leid. Ich war aber genau so. Heute dominiert der Wunsch nach flauschiger Wärme (und nicht existierender Blasenentzündung!).  

Winter als Duft

Wenn ich frage: „Wie riecht der Winter?“, dann stoße ich immer wieder auf strahlende Gesichter. Der Winter riecht wieder nach klarer Luft, nach roten Nasen, nach Dunkelheit, nach einem Zusammenspiel von Vanille und Zimt, nach innerer Wärme. Er riecht nach Shopping-Ekstasen, nach gut gemeinten Ausreden, nach besonderen Tagen, nach Weihnachtsessen mit Kolleg*innen oder Freund*innen. Dieser Duft, der nach Ruhe verlangt und dafür sorgt, dass wir uns wieder geborgen fühlen. Nach dem überhitzten Plastik der Wärmflasche, nach gerösteten Mandeln, nach Clementinenresten an den Fingern. 

Leise rieselt der Schnee?  

Doch wenn ich dem Winter gegenüber noch einen Wunsch frei hätte, ohne seine Charaktereigenschaften zu kritisieren, dann wäre es der folgende: Der Schnee, der soll nicht leise rieseln. Er soll mit vollem Ungestüm vom Himmel niedergehen, sich dramatisch sammeln, und uns den Winter bescheren, den wir uns wünschen. Die weiße Decke, die wir uns für den Winter wünschen, die uns wieder zu Kindern werden lässt, begegnet uns oft zu kurz, kreiert Chaos in all möglichen Ausführungen, doch wenn er dann mal kommt, dann genießen ihn alle gemeinsam. Nichts verbindet Fremde so sehr, wie in der Nacht den ersten Schnee gemeinsam zu erleben und dafür noch einmal die Stiefel über den Pyjama zu ziehen. Doch: Ein Silvesterabend um 00:00 unter dem feiernden Himmel, wenn man plötzlich die Nachbarn trifft. Oder der gemeinsame, vorgegaukelte Unmut bei Edeka an der Kasse – über Spekulatius im September.  Das verbindet auch. 

Zwar werde ich nun nicht mehr durch den Winter geschoben, ich bin immerhin 30 Jahre alt, jedoch kommt mir der Winter immer noch unwirklich schön vor. Jedes Jahr aufs Neue. Schließlich kehrt der Winter, wenn wir noch die Kurve bekommen, jedes Jahr wieder. Er konfrontiert uns jedes Mal aufs Neue mit den gleichen Herausforderungen. Wenn wir diese jedoch nutzen, uns die schönen Seiten herauspicken: Wer kann uns dann noch etwas? 

Doch es gibt noch einen Wunsch, der alles überragt

Was mich aber besonders dazu bewegt, den Winter so zu genießen, ist der Fakt, dass ich mir meiner privilegierten und warmen Position bewusst bin und mich immer wieder daran erinnere, was für ein Glück ich habe, dass ich die Kälte romantisieren darf. Es liegt daran, dass ich am Ende immer in meine warme Wohnung zurückkehren kann und dass ich Menschen um mich habe, die mich mit ihren Worten wärmen. Diese Möglichkeiten haben aber leider nicht alle Menschen. Und deshalb ist der Winter nicht für alle Menschen ein Glücksumstand. Manche von ihnen müssen auf der Straße leben, sei es durch Krankheit oder durch einen Schicksalsschlag, aber egal wodurch diese Tatsache auch immer ausgelöst wurde: Niemand sollte im Winter allein auf den Straßen frieren.

Lasst uns in den kalten, besinnlichen Tagen noch etwas genauer hinsehen und aufeinander Rücksicht nehmen, mehr Lächeln, mehr Empathie zu zeigen und unsere Privilegien nutzen, um anderen zu helfen. Sei es der Kontakt zum Kältebus, ein heißer Kaffee oder eben ein kurzes, ehrliches Gespräch.

 

 

Sharing is caring

Eine Antwort zu “„Da bist du endlich wieder!“ – Ein warmer Liebesbrief an den Winter”

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Absenden des Kommentars bestätigst Du, dass Du unsere Datenschutzerklärung zur Kenntnis genommen hast.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner