Corona, die Lockerungen und der Mensch: Hab ich was verpasst?
„Yeah! Der Sommerurlaub ist gerettet.“ Als ich diese Nachricht einer Freundin lese, passiert es. Ich schüttle den Kopf und mir fehlen die Worte. Das passiert mir selten. Sehr selten. Doch in dem Moment frage ich mich: Bin ich paranoid oder die anderen einfach zu leichtsinnig? Oder sogar naiv?
Corona ist ein Virus. Einer, der eine globale Pandemie ausgelöst hat. Einer, gegen den es bislang keine Medikamente und Impfstoffe gibt. Einer, den wir mit unserem Gesundheitssystem bewältigen können, wenn wir die Infektionskurve klein halten. Einen, den wir die vergangenen acht Wochen gut in Schach gehalten haben.
Doch das ist jetzt vorbei. Könnte man zumindest meinen. Kaum hatte Söder hier in Bayern die ersten Lockerungen versprochen, kippte irgendwo ein Schalter um. „Yeah, endlich wieder frei“, riefen mir die Menschen zu. Ich nickte. Zögerlich. Ja, schon irgendwie. Das ist auch gut. Ein großes Aber schwingt trotzdem mit. Ich blieb aber still. Die Rolle der Spielverderberin steht mir erstmal nicht, dachte ich.
Bis ich vergangenen Freitag auf die Theresienwiese radelte, um einen (!) Freund zu treffen. Nach langer Zeit nicht mehr nur spazieren zu gehen, sondern gemeinsam einsam in der Abendsonne zu sitzen und ein Feierabendbier zu trinken. Diese Idee hatten viele andere auch. Der einzige Unterschied: Es waren Gruppen. Acht, neun Personen standen und saßen zusammen – ohne Masken natürlich. Der Höhepunkt meines Entsetzen war eine Friedensgruppe, die Musik spielte. Was für eine schöne Idee, dachte ich im ersten Moment. 8. Mai, Kriegsende vor 75 Jahren und so. Bis ich die Menschenmassen der ZuhörerInnen sah, die um diese Gruppe herumstanden. Festival-Stimmung mit Bierchen und Musik. Miese Idee in einer globalen Pandemie, war der zweite Gedanke.
Irritiert schrieb ich meiner Schwester: „Hab ich eigentlich was verpasst?“. „Warum?“ „Corona ist doch nicht vorbei, oder?“ „Nein, aber wenn man sich umsieht und umhört, könnte man es fast meinen“, schrieb sie zurück.
Tatsache, Abstand halten ist irgendwie out, setzte ich noch hinterher.
Wütend war ich. Wütend.
Versteht mich nicht falsch. Unsere Freiheit ist gut und wichtig. Die Ausgangsbeschränkung hat uns Szenen wie in Italien erspart. Unserer Konsequenz und unserer Solidarität zum Dank. Wir haben die Kurve verlangsamt – und damit unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt. Wir haben aber – und das scheint mir gerne in Vergessenheit zu geraten – nicht den Virus besiegt. Wir haben ihn verlangsamt, vielleicht ein wenig weniger präsent in unserer Gegenwart gemacht, aber er ist noch da. Und nicht weniger gefährlich, nicht weniger tödlich für viele. Von eventuellen Virus-Mutationen wie bei der Grippe wollen wir erst gar nicht anfangen.
Die Lockerungen der Regierung sind wichtig. Auch, wenn ich bei Entscheidungen wie bei der Bundesliga immer noch nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll, freue ich mich, dass unsere Wirtschaft langsam wieder hochfährt, das alte Leben zumindest Schritt für Schritt zurückkommt. Verstehe alle Eltern, die aufatmen, dass Kitas und Schulen langsam wieder öffnen. Eine kurze Verschnaufpause in Zeiten wie diesen.
Doch was bedeuten die Lockerungen für jeden Einzelnen von uns?
Einfach so weitermachen wie vor dem 13. März? Ich denke nicht.
Fühle mich mit diesem Standpunkt bei einem kurzen Blick
im Supermarkt aber ziemlich einsam.
Masken werden getragen, aber ansonsten ist die Abstandsregel vergessen. Es wird geschubst, zu nah aufgerutscht und draußen gerne sogar mal ins Gesicht gehustet. Wenn man nicht noch schnell zur Seite springt. Gruppen kommen mir entgegen, es wird sich umarmt, mit Handschlag begrüßt und permanent auf die Schulter geklopft.
Das ist menschlich. Ich verstehe es. Auch mir fehlt der körperliche Kontakt seit acht Wochen. Aber ehrlich: Ob ich meine Mutter demnächst umarme? Ich weiß es nicht. Denn – Überraschung: Ich will sie und ihre Gesundheit schützen.
Ich war wirklich die letzte, die sich ärgert, wenn ich Menschen trotz Lockdown draußen in Gruppen sitzen gesehen habe. Denn: I’m not walking in their shoes. Vielleicht mussten sie öfter raus, weil kein Balkon zur Wohnung gehört. Vielleicht war der Menschenkontakt überlebensnotwendig, um nicht am Rad zu drehen. Vielleicht war alles seelisch zu viel. Vielleicht war es aber auch Leichtsinn. Aber daran mag ich nicht glauben.
Ich bin nicht dafür, dass wir alle weiterhin eingesperrt in unseren Wohnungen sitzen und möglichst ein Jahr lang knallhartes Social Distancing betreiben. Aber mit der Freiheit kommt die Verantwortung für uns alle. Der Corona-Virus ist noch da. Deshalb heißt es: weiter Abstand halten. Aufpassen. Vielleicht nicht jeden Tag zu Ikea, H&M und Co. rennen, wenn es nicht sein muss. Die Restaurants vor allem weiter mit To-Go unterstützen. Den Sommerurlaub in Deutschland, Österreich und der Schweiz planen und sich einfach mal vom Gedanken der Fernreise verabschieden. Ist eh besser für die Umwelt. Und verdammt nochmal den Kreis derer, die man trifft, zwar erweitern, es aber auch nicht übertreiben.
Corona interessiert unsere Freiheit nämlich leider nicht. Der Virus bleibt. Und unsere Waffe ist momentan nur eines: Social Distancing.
Denn – und das vergessen wir gesunden Menschen gerne mal – es gibt da draußen jede Menge Menschen, die weiterhin zur Risikogruppe zählen. Die bei Bildern wie an der Theresienwiese Angst bekommen. Angst, wirklich gar nicht mehr rausgehen zu können, damit sie überleben – in der globalen Pandemie. Die keine Lobby und somit auch keine Stimme haben, anders als der DFB oder die verschiedenen Wirtschaftszweige.
12 Antworten zu “Corona, die Lockerungen und der Mensch: Hab ich was verpasst?”
Danke für diesen wichtigen Artikel! Zufällig ist heute unsere kurze Studie zum Thema social distancing fertig geworden, in der wir untersuchen, wieso sich Menschen an social distancing halten. Jeder kann gern teilnehmen: https://tpsurvey.ugent.be/limesurvey315/index.php/986917?newtest=Y&lang=de
Danke :)
Danke dir für den Artikel! :)
Wahre Worte, mir geht es wie Dir.
xx Rena
http://www.dressedwithsoul.com
Ich beobachte das leider auch im Freundes- und Bekanntenkreis. Auch ich finde das Tragen von Masken, das ständige Händewaschen und das Einhalten des Mindestabstands ziemlich lästig ABER so ist es halt gerade. Wenn ich dann Menschen verkünden höre, dass sie sich wieder normal ohne Abstandsmaßnahmen mit Freunden treffen, ‚weil einige davon safe Corona hatten‘ und da eher ‚locker drauf sind‘ und man, wenn man es denn bekommt, ‚wohl auch überleben wird’…ja dann wird mir schlecht. Wenn es schon die bestens ausgebildeten Menschen (die es eigentlich besser wissen müssten) so halten… Es wird auch nicht ansatzweise darüber nachgedacht, dass man unwissentlich infiziert sein und andere, die es nicht so locker wegstecken können, damit in Gefahr bringen könnte. Ich möchte das jedenfalls nicht und halte mich daher weiterhin an all die unbequemen Regeln.
Mir wäre es ehrlich gesagt am liebsten, wenn im gesamten öffentlichen Raum eine Maskenpflicht gelten würde, auch um das Bewusstsein für die Ausnahmesituation weiterhin präsent zu halten…
Ich freu mich sehr, dass Ihr Eure Reichweite nutzt, um an die Wichtigkeit der Maßnahmen zu erinnern und empfehle in dem – entfernten – Zusammenhang folgenden Artikel: https://www.newyorker.com/magazine/2020/05/04/seattles-leaders-let-scientists-take-the-lead-new-yorks-did-not
Liebe Grüße!
Danke für den Artikel. Ich gehöre zur Risikogruppe und finde was gerade passiert ziemlich beängstigend und rücksichtslos, bin aber froh hier daran erinnert zu werden, dass es auch weiterhin vernünftige, solidarische Menschen gibt (die man weniger oft sieht draussen).
<3 auf jeden Fall! Es heißt jetzt einfach solidarisch sein und gemeinsam durch die Pandemie - bleib gesund!
Hey Antonia,
guter Artikel – mir ist nur eine Kleinigkeit aufgefallen – du schreibst, Covid 19 ist ein Virus. Covid 19 ist die Krankheit, die durch Corona – dem Virus, ausgelöst wird. Nur so der Form halber ?
Lieben Gruss Ava
Ava, da hast du natürlich Recht :) ändere ich gleich :)
[…] aus der Zeit mit Corona? Diese Frage habe ich in den vergangenen Tagen immer wieder gehört. Auch wenn ich im ersten Impuls erstmal sagen will: „Es ist noch nicht vorbei“, weiß ich auch, dass die große Krisen-Zeit mit Ausgangsbeschränkung erstmal der Vergangenheit […]
[…] Wochen nach dem ersten Lockdown ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, wir haben nur eine gemeinschaftliche Höchstleistung vollbracht. Die Kurve abgeflacht und so […]
[…] ich nerve, aber manchmal ist Vorsicht eben besser als Nachsicht. Ich wiederhole mich also und sage: Corona ist noch nicht vorbei, auch wenn es sich so anfühlt. Ja, wir sollen alle wieder raus, wir sollen das Leben genießen und wir sollen auch endlich wieder […]