Was haben Lena Dunham, Bill Murray, Kanye West, Louis C.K. und Johnny Depp mit R. Kelly gemeinsam? Sie alle wurden in den letzten Jahren „gecancelt“. Das bedeutet, Menschen haben öffentlich zum kulturellen Boykott ihrer Arbeit aufgerufen, weil sie sich alle moralisch etwas zu Schulde haben kommen lassen. Die sogenannte Cancel Culture steht seit einigen Jahren immer wieder zur Diskussion. Die einen rufen vehement dazu auf, die anderen sind empört und fühlen sich bevormundet, und wie so oft lautet das grundsätzliche Problem: Es gibt keine Patentlösung. Wie also können wir damit umgehen, wenn sich unsere Lieblingspromis als schlechte Menschen entpuppen? Wo ist die Grenze? Und bringt der Boykott überhaupt etwas?
Unklare Grenzen
Will man wirklich konsequent sein und niemanden mehr unterstützen, der sich jemals in unmoralischer Weise geäußert oder falsch verhalten hat, dann bleibt beinahe niemand mehr übrig. Es gibt eine Liste – und verdammt, sie ist lang! Die Frage, wann die Notwendigkeit zum Boykott besteht und wann nicht, ist schwierig und persönlich. Es gibt da diese gewisse Grenze, ab der die Argumentation „Niemand ist perfekt, Promis sind auch nur Menschen“ nicht mehr gelten kann. Dann gebietet es uns die Moral, die Person nicht mehr länger zu unterstützen und sie zu „canceln“ – sie nicht mehr länger zu „bezahlen“, ob nun mit Geld oder Aufmerksamkeit. Beides ist zumindest im Enterntainment-Business ohnehin ähnlich wertvoll. Aber: Diese Grenze zieht jeder Mensch anders. Das ist an sich kein Problem. Denn es ist genauso erlaubt, jemanden aufgrund der kleinsten, ungünstigen Äußerung zu boykottieren, als auch verurteilte Straftäter weiter zu supporten. Das ist dann die sogenannte Meinungsfreiheit. Was leider oft vergessen wird ist allerdings, dass diese Meinungsfreiheit auch beinhaltet, dass man für beide Entscheidungen kritisiert werden darf. Kurz: Du darfst machen, was du willst – aber ich darf es auch scheiße finden. Und umgekehrt.
Bringt das was?
Wie in jeder Diskussion rund um die Themen politische Korrektheit, Empathie und Moral bleibt uns keine andere Wahl, als Uneinigkeit auszuhalten. Wir werden keine allgemein gültige Regelung finden, welches Verhalten einen Boykott rechtfertigt und welches nicht. Und das ist okay. Die persönliche Entscheidung, kulturschaffende Personen zu boykottieren, ist dennoch eine legitime Art und Weise, seiner Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Es ist ein kleines politisches Statement, das in der Masse etwas bewegen kann. Oder?
Tatsächlich ist nicht ganz klar, ob Cancel Culture tatsächlich funktioniert. In der Theorie klingt es logisch: Wenn man jemanden „cancelt“, entzieht man ihm bewusst Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit übersetzt sich in Geld. Und Geld übersetzt sich in Macht. Entzieht man also Aufmerksamkeit, dann tut man das, um der Person in letzter Instanz ein kleines bisschen Macht zu entziehen. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Gerade am aktuellen Beispiel R. Kelly zeigt sich das sehr eindrucksvoll: Trotz des großen Aufschreis – oder wohl eher wegen des großen Aufschreis – schnellten nach Veröffentlichung der Dokumentation „Surviving R. Kelly“ seine Streamingzahlen in die Höhe.
Der Fall R. Kelly
Aber erst mal zurück zum Anfang. Auf der erwähnten Liste problematischer Promis steht auch R. Kelly schon seit mindestens fünfzehn Jahren – seit die Vorwürfe wegen Missbrauchs minderjähriger Frauen erstmals aufkamen. Geschadet hat das seiner Karriere bis vor Kurzem sehr wenig. In der Dokumentation wird klar, woran das liegt: Wir wollten wegschauen. R. Kelly war einer der größten Popstars der frühen 00-Jahre – der König des R’n’B, eine Ikone der Black Community. Seine Songs wurden in der Kirche gesungen, zahllose Paare heirateten zu seinem Soundtrack und wir alle haben schon mal auf irgendeiner Hausparty zu „Ignition“ getanzt. Wir wollten uns all diese schönen Erinnerungen um keinen Preis versauen lassen – egal, wie erdrückend die Beweislast war. Und R. Kelly kam ungeschoren davon, viele Jahre lang.
Doch seit die sechsstündige Dokumentation „Surviving R. Kelly“ die Schwere seiner Straftaten aufdeckt, ist es kaum noch möglich, weiter wegzuschauen. Und nun folgen tatsächlich Konsequenzen: In Deutschland haben sich gerade erst als Folge einer Petition mit über 40.000 Unterschriften zwei Veranstaltungshallen geweigert, ein Konzert von R. Kelly auszurichten. Spotify hat als Reaktion einen „Mute“-Button eingeführt, mit dem man bestimmte Künstler aus Playlisten entfernen und so das Streamen ihrer Songs unterbinden kann.
„Canceln“ allein genügt nicht
Auch andere Beispiele zeigen, dass öffentlicher Druck durchaus zu Konsequenzen führen kann: Roseanne Barr, Hauptdarstellerin bei „The Conners“, wurde aus ihrer eigenen Show gefeuert, nachdem sie einen rassistischen Tweet postete. „Fox News“ hat Trumps Lieblingsmoderator Bill O’Reilly nach Missbrauchsvorwürfen entlassen. Aber: Gleichzeitig landet Kanye West immer noch Nummer-Eins-Hits, obwohl er Sklaverei als Entscheidung bezeichnete und nach wie vor regelmäßig Trump-Merchandise trägt. Chris Brown wurde wegen häuslicher Gewalt verurteilt und erst kürzlich der Vergewaltigung beschuldigt – seiner Karriere tat das keinen Abbruch. Und auch R. Kelly ist trotz erdrückender Beweislast nach wie vor ein gefeierter Popstar – und seine Streamingzahlen gehen hoch, nicht herunter. Wie man sieht, ist die Macht des „Cancelns“ sehr begrenzt: Mit einem kurzen Statement kann man jeden jederzeit offiziell boykottieren und ablehnen, aber diese Entscheidung ist eben niemals universell. Für echte Konsequenzen müssen sehr, sehr viele Menschen mitziehen und vor allem: aktiv werden.
Schluss mit der Doppelmoral
Auf der persönlichen Ebene jedoch kann der Akt des „Cancelns“ etwas sehr Kraftvolles sein: Ein bisschen wie das Beenden einer toxischen Beziehung. Es ist der emanzipatorische Akt, sich trotz der schönen Erinnerungen von etwas zu lösen, das man nicht mehr länger mit sich vereinbaren kann. Es ist auch die Manifestation der Erkenntnis, dass die Erfahrungen der Menschen, die unter Machtmissbrauch gelitten haben, wichtiger sind als unsere guten Erinnerungen an bestimmte Songs, Filme oder Bücher. Ja, es kann weh tun, sich von jemandem zu verabschieden, den man bewundert hat.
Wer aber beim Thema Boykott in die Defensive gerät und sich von den Forderungen der Cancel Culture angefeindet fühlt, der richtet seine Wut vielleicht in die falsche Richtung. Denn die sollte sich nicht auf eine Kultur richten, die uns für Inkonsequenz kritisiert. Was uns wirklich wütend machen sollte, ist der Machtmissbrauch unserer ehemaligen Lieblingspromis. Es ist allein die Verkorkstheit der TäterInnen, die uns den Spaß verdirbt. Diese persönliche Konsequenz beim Boykott ist nötig, wenn wir nicht wollen, dass sich die Casa R.Kelly wiederholt und ein Sexualstraftäter davon kommt – einfach nur, weil er so toll Balladen schreiben kann.
Letztlich ist die Macht der Menschen, die sie missbrauchen, ja doch irgendwie die Summe all unseres Supports. Ganz unabhängig davon, ob das „Canceln“ also wirklich etwas verändert, kann es daher ein sehr befreiender und konsequenter Akt sein: Denn dann können wir uns zumindest sicher sein, dass wir nicht mehr länger selbst Teil des Problems und ehrlich mit uns selbst sind. Das sollte uns allerdings nicht genügen: Will man wirklich etwas verändern, dann reicht „Canceln“ allein nicht. Dann muss man aktiv werden. Und das kann sich auszahlen: Das zeigt der bisherige Erfolg der Petition gegen die Konzerte R. Kellys in Deutschland.
Bildcredits: R. Kelly stummschalten / Instagram
3 Antworten zu “Cancel Culture – Kultureller Boykott & der Fall R. Kelly”
Bei allen, als Beispiele, genannten Prominenten habe ich eine Vorstellung, was sie gemacht haben. Nur bei Bill Murray fehlt mir die Info. Bei yourfaveisproblematic finde ich ihn auch nicht.
Kann jemand weiterhelfen?
In der Regel muss man einfach *Prominame* + „problematic“ googeln und wird bei fast jedem fündig.
Bei Bill Murray geht’s vor allem um häusliche Gewalt (physisch und psychisch): https://blueprintzine.com/2018/01/17/why-is-everybody-celebrating-bill-murray/
Toller Artikel und ein wichtiges Thema, über das ich mir auch schon oft Gedanken gemacht habe.
Es gibt nur eine Sache, bei der ich differenzieren würde: Kanye West. Die politischen Statements von einem bekanntlich psychisch kranken Künstler in einem Satz zusammen mit Sexualstraftaten aufzuzählen, finde ich nicht gerechtfertigt und sollte man differenzierter betrachten (Was natürlich nicht heißt, dass man sie billigen muss).