Kleine Info am Rande: Wusstet ihr, dass sich der präfrontale Cortex bis zu 25 Jahre braucht, bis er völlig ausgereift ist? Dieser Teil des Gehirns gilt als „Sitz der Persönlichkeit“. Es mag zwar Allgemeinwissen sein, aber ich wusste es nicht – bis ich 25 wurde.
@browngirltherapy: Dieser Instagram-Account hilft mir, migrantische Erfahrungen aus der Kindheit aufzuarbeiten
Eigentlich dachte ich, mit der Pubertät wären die großen Veränderungen im Gehirn abgeschlossen. Natürlich ist dem nicht so und das musste ich auch lernen. Mit meinem 25. Geburtstag hat es begonnen – plötzlich habe ich angefangen, total viele Dinge, mit denen ich in meinem Privatleben zu kämpfen hatte, zu hinterfragen. Wieso bin ich so unsicher? Wieso habe ich immer noch Probleme, „Nein“ zu sagen? Und wieso habe ich auch mit Mitte 20 noch diesen ungestillten Drang nach Bestätigung?
Okay, zurück zum Thema. Unsicherheit, Ja-Sager-Tum und der Drang nach Bestätigung – eigentlich sind das Eigenschaften, die ich auch vorher schon hatte und die mich auch vorher schon gestört haben. Aber seit einer Weile sehe ich die Sachen aus einem etwas anderen Winkel. Zum Kontext: Eigentlich dachte ich immer, alles, was bei mir *falsch* läuft, läge halt auch an mir. Und obwohl ich weiterhin denke, dass ich meinen Teil dazu beitrage – langsam schleicht sich die Realisation bei mir ein, dass auch zwei weitere Menschen etwas damit zu tun haben: meine Eltern.
Es ist eigentlich das, was ich denke, dass Therapeut*innen als erstes erfragen: „Wie war eigentlich Ihre Kindheit?“
Und da ich der Überzeugung bin, dass meine Kindheit total normal war, würde ich dem entgegnen: „ganz gut“.
@browngirltherapy: Wieso ich doch einiges aufzuarbeiten habe
Ich fand Psychologie-Content ja schon immer interessant, konnte aber viele der dort erklärten Dinge nicht so recht auf mich beziehen. Vielleicht weil ich es nicht wirklich einsehen wollte oder weil ich es einfach noch nicht wusste. In der letzten Zeit habe ich aber immer wieder gemerkt, dass die Erziehung meiner Eltern und die Erfahrungen, die ich als Kind von Migrant*innen gemacht habe, mich mehr geformt haben, als ich dachte. Zwar in viele positive, aber auch in negative Richtungen.
Und obwohl ich weiterhin denke, dass meine Kindheit ganz gut war, merke ich, dass ich auch einiges an Arbeit vor mir habe.
Eigentlich sieht man es in jedem billigen Film, in dem eine Therapie-Session angehalten wird: Erst mal geht es um die Kindheit und die Erziehung. Oft haben die Protagonist*innen, die auf dem Patient*innenstuhl sitzen, immer sofort eine Ahnung davon, was bei ihnen nicht richtig lief. Leider waren (und sind) die Dinge für mich nicht so glasklar, und es hat auf jeden Fall eine Weile gedauert, bis ich selbst realisiert und vor allem akzeptiert habe, dass auch ich nicht nur gute Erfahrungen gemacht habe.
Dabei geholfen hat mir der Instagram-Kanal @browngirltherapy von der Therapeutin Sahaj Kaur Kohli. Auf ihrem Kanal postet sie regelmäßig aufschlussreichen Content darüber, welche Auswirkungen die Erfahrungen haben können, die Kinder von Migrant*innen in beispielsweise ihrer Kindheit und Jugend machen. Dabei sind einige Dinge nicht unbedingt exklusiv nur für die zweite Generation – je mehr ich mir ihren Content anschaue, desto eher merke ich, dass es neben der typischen Migrant*innen-Identitätskrise auch bestimmte, eher konservative Erziehungsstile sind, die einen negativ beeinflussen.
Sahaj Kaur Kohli gründete die Plattform @browngirltherapy schon während ihrer Uni-Zeit und hat mit ihrer Arbeit nicht nur zahlreiche Menschen erreicht – sie konnte ihr Wissen und ihre individuelle Sicht auf die Dinge schon in diversen Magazinen und auch auf Talks sowie Workshops teilen. Sie hat tatsächlich die erste richtige Online-Community für Kinder von Migrant*innen geschaffen. Ihrer Meinung nach besteht ein Mangel an Diversität im Therapiesektor.
Eine Ja-Sagerin, wie sie im Buche steht
Bestes Beispiel: People-Pleaser. Es gibt bestimmt zahlreiche Dinge, die eine Entwicklung zum People-Pleaser begünstigen. Aber durch @browngirltherapy habe ich realisiert, dass die Eigenschaft meiner Eltern, „Neins“ als absolute Unmöglichkeit anzusehen, mich definitiv darin bestärkt haben, es immer allen recht zu machen. Gerade in meiner Kindheit gab es zu Hause keine „eigene Meinung“. Klingt geschrieben irgendwie viel dramatischer als es war, aber vielleicht gehört das auch zum Realisieren dazu. Jedenfalls war mir schon als Kind immer klar: Was von meinen Eltern oder anderen Autoritätspersonen gesagt wird, ist Gesetz. Deshalb hatte ich früher für meine Grundschulkamerad*innen, die sich hier und da mal erlaubt haben, Regeln zu brechen, wenig Verständnis. Heute wünsche ich mir manchmal, ich wäre als Kind nicht so steif gewesen.
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Eine weitere Sache, die mich besonders in meinen späten Teenie-Jahren und frühen 20ern begleitet hat, war das „Doppelleben“. Es gab auf jeden Fall so ein paar Dinge, die ich vor meinen Eltern geheim gehalten habe. Obwohl diese eigentlich total normal waren. Von Außenstehenden habe ich oft gesagt bekommen, dass ich doch einfach ehrlich sein solle und dass Eltern einen ja immer lieben würden. Das mag zwar hier und da auch stimmen – denn inzwischen weiß ich, dass meine Eltern mein nicht-mehr-Doppelleben akzeptieren – aber wenn man das nicht weiß, dann lauert eine unterschwellige Angst.
Angst, Menschen zu enttäuschen und ein „schlechtes“ Kind zu sein. Denn in meiner Kindheit wurde mir immer gespiegelt: Nur wer seine Eltern glücklich macht, ist ein „gutes“ Kind. Und das hat mich natürlich immer wieder in einen Konflikt damit gebracht, was ich eigentlich wollte.
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Auch heute, egal wie dramatisch es klingt, frage ich mich manchmal, wer ich eigentlich bin, was ich eigentlich will und wie fremdgesteuert meine Wünsche und Ziele wirklich sind. Ich denke mal, damit bin ich nicht alleine und vielen von uns geht es so.
Für mich kommt aber noch hinzu, dass ich mich ständig zwischen zwei Kulturkreisen bewege: dem meiner Eltern und dem deutschen Kulturkreis. Auch wenn ich mich in Deutschland heimisch fühle, hat die Kultur meiner Eltern und meiner Familie besonders in Kindheitstagen großen Einfluss auf mich gehabt. Das ist prinzipiell nichts Schlechtes. Es ist dafür aber maximal verwirrend. Wahrscheinlich auch, weil ich mich in der Anfangsphase meiner Unabhängigkeit befinde und zum ersten Mal die Freiheit fühle, entscheiden zu können, wer ich bin.
Da es ja noch sowas wie die Mid-Life-Crisis gibt, denke ich mal, Identitätskrisen gehören zum Leben einfach mal dazu. Aktuell habe ich aber eigentlich gar keine Lust darauf und würde meine ganzen Gedanken und das Reflektieren gerne mal abschalten. Leider geht das nicht und vielleicht ist es auch mal wichtig, zum ersten Mal wirklich ehrlich zu sich zu sein.
Um zum Abschluss noch ein paar positive Vibes reinzubringen: Ich bin sehr dankbar für die ganzen Dinge, die mir meine Eltern ermöglicht haben und überhaupt dafür, dass sie für sich und ihre Kinder entschieden haben, in einem fremden Land quasi ein neues Leben zu beginnen. Und ich denke viele, die aus ähnlichen Familienverhältnissen kommen, sehen das ähnlich. Dennoch sollten wir die Aufopferungen unserer Eltern (oder anderer Menschen) nicht als Entschuldigung für alles nehmen. Denn wenn Dinge falsch laufen, laufen sie eben falsch.
Zu sagen, dass ich jetzt weiß, was bei mir nicht richtig lief und vor allem was ich nun dagegen tun kann, wäre eine Lüge. Aktuell habe ich vielleicht ganz leicht an der Oberfläche gekratzt. Aber es hilft zu wissen, dass man eben nicht an allem selbst schuld ist, sondern einiges auch außerhalb der eigenen Macht liegt, weil es eben auf die Erziehung zurückzuführen ist. Und auch wenn ich diese Dinge in kommender Zeit wahrscheinlich nicht an meine Eltern herantragen werde, helfen sie mir, mich selbst besser zu verstehen und an mir zu arbeiten.
PS: Instagram-Accounts ersetzen natürlich keinen echten Therapie-Sitzungen – vielleicht finden aber zumindest ein paar von euch auch im @browngirltherapy Account wieder!
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