#Boundaries, oder: Wie ich lernen musste, mich abzugrenzen

14. Januar 2021 von in

„Du hast in deinem Leben nie Grenzen erfahren“, den Satz musste ich mir vor ungefähr fünf Jahren von meinem Papa anhören. Ich erinnere mich genau an den Tag und den Moment, an dem ich zum ersten Mal mit dem Thema Abgrenzung und Grenzen setzen vertraut gemacht wurde. Wir saßen in einer Kaffeebar auf einem Dach. Es war einer dieser Tage im Februar, die den Frühling ankündigen. Die Sonne knallte auf uns, und mit ihr die Erkenntnis, dass ich eine beschissene Beziehung führte. 

Mein Vater hatte natürlich völlig recht. Nie habe ich Grenzen erfahren, in der Erziehung, in Beziehungen, in der Schule. Das war einerseits toll, andererseits habe ich dadurch etwas ganz Wichtiges nie lernen können: Abgrenzung. Dieser Begriff kursiert heute im Englischen als Hashtag durch Instagram und Twitter. #Boundaries ist das neue Trendthema, mit dem ich mich nicht nur seit vielen Jahren beschäftige, sondern das ich seit vielen Jahren aktiv lebe. 

Wie immer hat dieser Lernprozess etwas mit einer toxischen Beziehung zu tun, in der man qualvoll zu einer Erkenntnis kommt, die einen das Leben lang prägen würde. Hand hoch, wer kennt’s? All diese Grenzen, die ich mein Leben lang nicht erfahren hatte, erfuhr ich in ein paar Monaten von einem Menschen, bei dem alle Red Flags leuchteten. Sie tröteten laut wie Sirenen und versuchten verzweifelt, auf sich aufmerksam zu machen: „Amelie, dieser Mensch tut dir nicht gut!“, schrien die Red Flags, aber ich ignorierte sie, wie man das eben so macht mit Anfang 20.

Anhänglich und eifersüchtig

Kurz zu ihm: Er war ein anhänglicher und eifersüchtiger Mensch – und somit alles, was ich nicht war, kannte und wollte. Nur ungerne durfte ich mit anderen Menschen sprechen, nur ungerne Zeit mit anderen Menschen verbringen. Seine Spontanbesuche fühlten sich an wie Kontrollgänge. Häufig stand er unangekündigt vor meiner Haustüre, besuchte mich in der Arbeit, oder las heimlich meine Nachrichten auf dem Handy. Er war so übergriffig, es musste ein neuer Name für übergriffig her. Damit verkörperte er alles, was mich triggerte. Eine Person wie ich, die sich grundsätzlich schnell eingeengt fühlt, bekam Platzangst in seiner Nähe. Wortwörtlich. Egal, was ich tat, egal,wo war, egal, mit wem ich sprach, er gab mir immer das Gefühl, ihn zu enttäuschen. Denn alles, was nichts mit ihm zu tun hatte, war für ihn eine Zurückweisung. Und das war alles, was Abgrenzung bedeutete. Es auszuhalten, andere zu enttäuschen. Andere Erwartungen nicht mehr zu erfüllen, wenn es mir nicht guttat. 

Dieses Gefühl, diese Angst, jemanden zu enttäuschen, hatte ich auch noch, als – Überraschung! – die Beziehung schnell gegen die Wand fuhr. In mir steckte ein so großes Bedürfnis, die Erwartungen aller zu erfüllen, dass es keinen Raum für meine Bedürfnisse gab:

„Wo gehen wir essen?“ – „Mir egal, entscheidet ihr!“
„Sehen wir uns heute?“ – „Klar, immer!“
„Kannst du mir helfen?“ – „Selbstverständlich, wann und wie du willst!“
„Tut mir Leid, jetzt habe ich nur von mir geredet“ – „Kein Problem, ich rede eh nicht gerne!“
„Du hilfst mir einfach immer!“ – „Na klar doch, ich helfe gerne!“ 

Dies ist der richtige Moment, mich als „People Pleaser“ zu outen. Ich bin ein People Pleaser. Was ich stets wollte, war die Anerkennung von anderen. Das oberste Gut sollte es sein, dass Menschen mit mir zufrieden waren. Ganz egal, ob meine Familie, Freunde, Freundinnen, Bekannte, Unbekannte. Ich hechelte ihren Wünschen hinterher wie ein bedürftiges Welpen, das lieb gehabt werden wollte. Das tue ich wahrscheinlich auch heute noch ab und zu. Ich stecke auch heute noch zurück, bin für andere da und helfe, wo ich kann und will. Das will ich auch. Doch früher hatte mich das Bedürfnis, gemocht zu werden, unter Kontrolle. 

Ich kannte keine Grenzen. Daher wusste ich nicht, was Abgrenzung bedeutet. Die zwei Dinge gehören jedoch zwangsläufig zusammen. Wenn ich mich abgrenze, ziehe ich automatisch eine Grenze für mein Gegenüber. Wenn ich eine Grenze erfahre, hat jemand eine Grenze gezogen. Es ist ein unumgängliches Wechselspiel. Ein blödes Spiel, wenn ich das mal so sagen darf. Weil keiner mag Grenzen, oder? Ich sagte Verabredungen ab, beendete toxische Beziehungen, und räumte viel mehr Zeit für mich selbst ein. Das fühlte sich gut an, doch damit machte ich mir keine Freunde – bis heute.

Empörung, Enttäuschung, Verletzung

Die Reaktionen waren empört, enttäuscht, verletzt. Gute Freunde fühlten sich zurückgewiesen. Liebe Menschen, die ich doch nicht zurückweisen oder enttäuschen will! Ich liebe sie doch! Und an dem Punkt fängt eine Abgrenzung an. An dem man lernt, die Reaktionen auszuhalten. An dem man akzeptiert, dass Menschen sich an einem stören. Vielleicht sogar hinter dem Rücken schlecht über einen sprechen, lästern, sich aufregen, sich beschweren, traurig sind. Aber diesem Unmut nicht mehr den Raum gibt, sich auszubreiten.

Es ist okay, wenn sich andere beschweren. Ich höre euch, und weiß, dass ich nicht immer einfach bin. Doch meine Bedürfnisse sind eben da. Sie sind Teil von mir. Das bin ich. Take it or leave it. Ich liebe meine Freunde und Freundinnen auch mit ihren Eigenheiten, mit ihren Grenzen, die sie mir zeigen, und genau diese Liebe erwarte ich auch mir gegenüber. Ich erwarte, dass ich als Ganzes akzeptiert werde, ohne mich dafür verbiegen zu müssen, oder einen Teil meiner Identität dafür unterdrücken muss. Und das ist die Liebe, die ich brauche. Eine, die mich akzeptiert und meinen Raum akzeptiert. Meine #Boundaries. 

Das Wechselspiel der Grenzen ist ein Spiel, das alle hassen.

Es ist so leicht gesagt, und so schwer getan. Das Wechselspiel der Grenzen ist ein Spiel, das alle hassen. Und das doch gleichzeitig so wichtig ist. Denn wer es mal beherrscht, wird mit Selbstakzeptanz belohnt und bestenfalls Ausgeglichenheit. Letzteres schaffe ich noch nicht, aber keiner hat gesagt, dass das Spiel der Grenzen schnell beendet ist. Es dauert ewig. Länger als Monopoly. 

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7 Antworten zu “#Boundaries, oder: Wie ich lernen musste, mich abzugrenzen”

  1. Hey Amelie, du sprichst mir aus der Seele. Ich finde mich so sehr in deinem Text wieder.
    Allerdings bin ich noch nicht dort angekommen, wo ich die Reaktionen der anderen einfach aushalten kann. Es fällt mir unglaublich schwer damit ok zu sein, wenn
    andere nicht ok mit mir sind. Was hat dir geholfen, dort hin zu kommen? Wie hast du das in (kleinen Schritten?) geübt? Und gibt es vielleicht ein Buch oder so, dass du dazu empfehlen kannst? Mehr zu lesen um diese Dynamik besser zu verstehen würde mir sicher helfen, schritt für schirtt sicherer darin zu werden, meine Grenzen selbstbewusst zu kommunizieren.
    Danke für diesen Artikel!

  2. […] „Ich verstehe nicht, warum es so relevant ist, ob und was ich für Sport mache? Ich verstehe nicht, dass du automatisch annimmst, ich würde Sport machen, nur weil ich in ein vermeintliches Bild von sportlich passe? Wieso verstehst du nicht, wie offensichtlich übergriffe, demütigend und intim diese Frage sein kann? Warum schmeißt du (und allewelt) so nonchalant mit diesen drei Worten um dich? Meinst du nicht, dass das für viele ein schmerzliches Thema ist, eine persönliche Boundary?“ […]

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