Berlin Diary: Hello, FOMO, my old friend
Auf den Straßen rumort es. Wie ein beben zieht es durch die Gassen, entlang der Sonnenallee, des Reuterplatzes, hinunter zur Weserstraße. Wie ein Donner, das mit einem lauten Krach das bevorstehende Gewitter ankündigt. Die Menschen sind zurück. In der einen Hand eine Flasche Wegbier, in der anderen eine Pizza zum Mitnehmen. Sie sind überall und wie die Ameisen wuseln sie sich ins Geschehen zurück in einen Zustand, den wir uns so lange zurück gesehnt haben: die Normalität. Dabei ist noch lange nichts wieder „normal“, was auch immer Normalität heute noch bedeutet. Doch mit den Menschen auf den Straßen und der Energie, die sich durch die gesamte Stadt zieht, flammen zumindest kleine Funken der Hoffnung auf, die das eingeschlafene Gefühl der Lebensfreude aufwecken. Der Frühling ist da und wenn man sich auf etwas im Frühling verlassen kann, dann ist es die damit einher gehende Lust, endlich mal wieder rauszugehen. Und das auch während einer Pandemie.
Worauf man sich momentan noch mehr verlassen kann, ist die anziehende Impfgeschwindigkeit in Deutschland, die mit jedem weiteren Pieks ein symbolischer Schritt Richtung der vermeintlichen Normalität ist. Immer mehr Menschen um mich herum haben die erste Impfung bereits hinter sich und blicken mit Hoffnung auf den durchgeimpften Sommer. Mit der Hoffnung kommen die Pläne, die wir alle nach und nach in die heißen Monate stopfen. Egal mit wem ich spreche, es geht eigentlich nur um Urlaubspläne, Essen gehen in der Außengastronomie, Open-Air-Kino und halt all die Dingen, die uns das letzte Jahr verwehrt geblieben sind. Ganz ehrlich: Ich bin sowas von froh, dass ich mich diesen Sommer auf etwas freuen kann, was außerhalb meiner Wohnung stattfindet. Doch gleichzeitig bin ich maximal überfordert davon, dass alle Pläne haben und ich bei allen Plänen dabei sein will.
Dieses Gefühl kommt mir so bekannt vor. Eine innere Unruhe, die in mir eine Unzufriedenheit auslöst und mich hibbelig werden lässt. Ach ja, das ist die FOMO, die ich schon total vergessen habe. Die Angst davor, etwas zu verpassen und das Bedürfnis, überall dabei zu sein. Die FOMO ist zurück und zwar mehr denn je.
Pläne sind etwas schönes, doch gerade in diesem Jahr nimmt diese Planerei Fahrt auf und löst ein FOMO-Gefühl in mir aus, wie ich es in diesem Maße noch nicht kannte (glaube ich). Es fühlt sich so an, als wäre ganz Deutschland für ein Jahr im Gefängnis gewesen und gleichzeitig alle frei gelassen worden. Auch wenn das natürlich überhaupt nicht stimmt, denn die Pandemie ist längst nicht vorbei und es ist fraglich, wie viel die Impfungen tatsächlich langfristig bringen. Doch mit dem Schutz vor einem schwerwiegenden Verlauf ist da zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie ein Gefühl der Hoffnung und der Lust auf Normalität, die uns alle unruhig auf unseren Plätzen hibbeln lässt. Ich fühle mich wie in den letzten zehn Minuten in der Schule kurz vor den Sommerferien. Die längsten zehn Minuten aller Zeiten.
Es ist, als hätte ich verlernt, mit dieser Ungeduld umzugehen. Ich glaube, ich hatte sie „früher“ gut im Griff, doch wahrscheinlich ist es wie mit allem, was man eine Zeitlang nicht mehr geübt hat. Man muss trainieren und lernen, sich in Geduld zu üben. Denn die Außengastronomie hat (hoffentlich) auch noch in drei Wochen auf und der Urlaub rennt auch nicht weg. Was für eine herausfordernde Zeit, um gelassen zu sein.
Die FOMO ist zurück und ich muss sagen, ich habe sie nicht vermisst. Doch wo FOMO ist, da ist auch Leben und etwas, was es zu verpassen gibt. Und auch wenn ich mich mit dem Gefühl, etwas zu verpassen, herumplage, so bin ich gleichzeitig mehr als dankbar, dass man wieder etwas verpassen kann: Leichtigkeit. Spaß. Adrenalin. Eben eine gute Zeit, die wir wahrscheinlich alle die letzte Zeit ganz schön vermisst haben. Sie steht vor der Tür – und jetzt muss ich nur noch ein bisschen entspannen und darin vertrauen, dass sie da auch noch eine Weile steht und auf mich wartet.
4 Antworten zu “Berlin Diary: Hello, FOMO, my old friend”
Hi Amelie, geht mir nicht anders :-) Das ist seltsam und schön zugleich, dass man sein Leben wieder aktiv planen kann – „so wie früher“ :D (bei diesem Satz fühle ich mich gleich nochmal 40 Jahre älter :D )…aber ehrlich? Lieber etwas FOMO, als ein Jahr wie das vergangene. LG Jasmina
Absolut! Sehe ich auch so :)
Das ist schlicht und ergreifend ein grossartig geschriebener Text! Die Einleitung bringt das Neuköllner Tagesgeschehen sowas von auf den Punkt – und mich sehr zum Lachen. Danke dir!
[…] von Normalität und vom Drang, alle Möglichkeiten endlich wieder auszunutzen. Die altbekannte Fomo, nichts zu verpassen und viel zu erleben packt mich im Sommer leider allgemein schon immer, in […]