Berlin Diary: Berlin, du machst mich spießig!
„Entschuldigung, würden Sie den Rauch Ihrer Zigarette womöglich nicht in mein Gesicht pusten?“, wollte ich neulich den Gast einer Berliner Bar fragen, der sich für meine Begriffe etwas zu nah an mich stellte und schamlos den stinkenden Rauch durch die Gegend blies. Stattdessen bewegte ich mich unauffällig ein paar Meter von ihm weg und als er mir einen Blick zuwarf, lächelte ich ihn freundlich an, wie eine Mama, die ihrem Sohn beim ersten Schultag ermutigend zunickt. Denn schlimmer als das Inhalieren von stinkendem Rauch des Glimmstängels in meinen noch entzündeten, schmerzenden Rachen der letzten qualvollen Grippe, war die Tatsache, dass mich der Qualm störte. So allgemein.
Mehr noch als ich den Zigarettenrauch in jener Bar heimlich hasste, hasste ich Menschen, die Zigarettenrauch in Bars hassen. Zigarettenrauch gehört in Bars. Sie definieren Bars. Eine Bar ist ein geschützter Raum, in dem sich Menschen sammeln, die vor dem Alltag, den täglichen Verpflichtungen und Stress flüchten und sich für ein paar Stunden dem reinen Vergnügen widmen, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob der Whisky Sour jetzt wirklich sein muss. Eine Bar ist einer der wenigen Orte, an denen man nicht über die Optimierung seiner Gesundheit nachdenken soll, und ich erkannte mich selbst nicht wieder, als ich mich beim Nasenrümpfen erwischte. Bin ich etwa spießig geworden? Wann ist das passiert? Bin ich mein schlimmster Albtraum geworden?
Von mir selbst enttäuscht ging ich nach Hause und versuchte, mir ein Ei zu pochieren. Theatralisch hüstelnd kochte ich mir eine Tasse Ingwertee und ließ mich auf meinem Bett nieder. Es war Samstagabend in Berlin, und ich lag einsam und mich selbst bemitleidend in meiner Wohnung, während ich mich an meine wilderen Zeiten Münchens zurückerinnerte, in denen ich in Clubs bei Sonnenaufgang selbst den Rauch in die Gesichter meiner Mitmenschen pustete und für die ich bei warnenden Blicken nur ein Augenrollen übrig hatte. Diese Spießer. Ich kaufte in München nur das Günstigste, weigerte mich, Wein im Schumanns zu trinken, ich ging selten in Restaurants und wenn doch, dann sollten sie eher aussehen wie Kneipen. München macht es einem leicht, sich rebellisch zu fühlen, da die Verbote an jeder Straßenecke warten und die Rebellion sozusagen schon bei einem fehlenden Fahrradlicht los geht, geschweige denn bei einer fußgängigen Straßenüberkreuzung bei Rot. Hör mir auf.
Seit ich im doch eigentlich so rebellischen Neukölln wohne (was man nicht alles hört von Neukölln!) lebe ich das bislang unrebellischste Leben. Ich plane den Besuch von schönen Weinlokalen, kaufe frischen und teuren Fisch im Fischladen, versuche, Eier zu pochieren und verbringe einen Samstagabend zu Hause. Die Ohropax liegen griffbereit, sollten meine Nachbarn wieder eine Hausparty schmeißen und wenn ich gefragt werde, wie es mir denn in Berlin so ergeht, antworte ich zusammenfassend so etwas wie: „Es ist schön, alles paletti, bisschen voll und laut vielleicht manchmal, in Clubs war ich seit ich hier wohne noch nie eigentlich, aber war ja auch Sommer und da geht man ja auch nicht so in Clubs also mal abwarten, vielleicht ja im Winter dann Berghain oder so, bin da ganz offen.“, und frage mich heimlich, wie lange meine Rechtfertigung „Sommer“ noch funktionieren wird.
Hier sitze ich also, bezahle pünktlich meine Rechnungen, gehe am Wochenende gelegentlich früh ins Bett, um „was vom schönen Tag zu haben“, bleibe bei Rot stehen, genieße den lokalen Weinhandel, störe mich am Zigarettenrauch in Bars und bin dabei mein einst größter Albtraum. Doch eigentlich gefällt mir das Leben unter eigener Kontrolle ganz gut. Und eigentlich macht es mich auch noch lange nicht zum Spießer. Schließlich mag ich das Leben hier und alle Möglichkeiten, die man hier hat. Mein Berlin ist wie die antiautoritäre Hippiemama, von der man sich manchmal etwas mehr Aufmerksamkeit wünscht, die einen durch die verschwommenen Grenzen vergessen lässt, gegen was man überhaupt noch rebellieren sollte. Ein paar Demonstrationen tun doch ihren Soll, und so lange ich meinen Mitmenschen nicht am Rauchen in Bars oder am Feiern in ihren eigenen vier Wänden hindere, ist doch alles im Lot.
Das Spießertum fängt erst dann an zu stören, wenn es versucht, sein Umfeld in seine routinierte Angepasstheit hineinzuzwängen. Also genieße ich mein reibungsloses Leben und lasse aber meine Mitmenschen rebellieren und reiben, so viel sie wollen. Denn darum geht es doch in einer antiautoritären Erziehung.
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4 Antworten zu “Berlin Diary: Berlin, du machst mich spießig!”
Amelie, tutto normalo! Ich bin jetzt seit gut 1 Jahr hier und habe mich bis vor kurzem nicht die Bohne für all die Sachen interessiert, wegen derer man normalerweise nach Berlin kommt. Und jetzt, wo ich tatsächlich etwas angekommen bin und meine Routinen habe, geht es piano piano los, dass ich Lust habe etwas auszuflippen und all die dunklen Seiten auszutesten!
Ps: Schonmal überlegt, dass du ja eigentlich, wie du es ihn München tatest, auch hier gegen die städtische Konvention rebellierst. Nur eben umgekehrt? In München war es gegen den satten Konservatisvismus und hier eben gegen den zügellosen Liberalismus.
Liebe Johanna, zu deinem letzten Satz: Du hast total recht, das ist mir auch schon aufgefallen, haha :). Und mit allem anderen bleibe ich gespannt, schließlich bin ich ja auch noch nicht lange hier!
Liebst,
Amelie
Aber Zigarettenrauch IST eklig, giftig, man bekommt ihn nicht mehr aus den Klamotten und überhaupt! Dagegen zu sein scheint mir im Grunde die einzige Option, nicht Spießig!
Ich wohne seit 10 Jahren in Berlin, hab von Prenzlauer Berg, Mitte bis Neukölln fast alle gefeierten Bezirke durch und mutiere auch gerade zum Spießer. :)
Berlin war/ist frei und locker, nur wird die Stadt immer voller und da muss man an der ein oder anderen Stelle doch mal Rücksicht auf andere nehmen… aber das geht gegen den Freiheitsdrang, der die meisten herziehen lässt. Finde die Stimmung in den letzten Jahren tatsächlich unangenehmer, was echt schade ist. Ist aber auch vielleicht nur das Alter ;)
Lg Tatiana