Alles auf Null: Wer hat Neuanfängen überhaupt eine Altersbegrenzung gegeben?

2. Februar 2023 von in

Desireé Oostland ist freie Redakteurin aus Düsseldorf. Die 29-Jährige schreibt am liebsten über ihre Gedanken und Gefühle, für amazed wagt sie sich ans Thema Neuanfänge. Wenn Desireé nicht gerade an einem Text sitzt, genießt sie guten Kaffee, persisches Essen oder Zeit mit ihrem Hund. Ihre nächste Reise geht höchstwahrscheinlich nach Paris – wenn die Sterne gut stehen. Denn Astrologie ist Desireés großes Guilty Pleasure. Mehr zu Desi findet ihr auf Instagram unter @cestdesiree

„Darf man mit 40 überhaupt noch studieren?“, höre ich einen jungen Mann sein circa 40-jähriges Gegenüber fragen. Und weil ich eher introvertiert bin und mich nicht getraut habe, mich der Konversation zweier wildfremden Menschen anzuschließen, packe ich meine Gedanken dazu gerne in diesen Artikel. Ich verstehe die Frage des Mannes nämlich nur zu gut. Der Wunsch nach einem Reset-Knopf für das eigene Leben kann echt stark sein. Einmal von Null anfangen und nicht mehr zurückschauen: ein rigoroser Neuanfang, eine neue Stadt, ein kompletter neuer Job, ein neues Hobby, ein neuer Freundeskreis oder ein komplett neuer Look. Das sind Wünsche, die wir nicht nur mit Anfang 20 haben.

Die Frage lautet also: Wovor haben wir immer solche Angst und wer hat eigentlich gesagt, dass Wagnis eine Altersgrenze hat?

Ich zumindest nicht. Doch ich kann mich mit meinen gerade noch 29 Jahren auch nicht gerade davon freimachen. Seit meinem 29. Geburtstag stellt mir eine extrem nervige und äußerst penetrante Stimme in meinem Kopf eigentlich nur eine Frage: Habe ich meine 20er gut ausgenutzt? Und in manch ruhigen Minuten lache ich mich für diese Frage selbst aus. Wieso fühlen sich die 20er so unglaublich ultimativ an, als würde man danach in ein Paralleluniversum hüpfen und alles, was dann kommt, würde einzig mit dem Fundament aus den 20ern funktionieren? Schwachsinn, wie ich jetzt weiß.

Gefühlt laufen wir ständig eine Art Marathon, dessen Start und Ziel wir nicht kennen. Wir laufen einfach drauflos, weil jemand mal gesagt hat: Renn, so schnell du kannst, sonst ist jemand anderes schneller. Wenn das aber dazu führt, dass wir nur gerannt sind und uns irgendwann zu alt fühlen, um unsere Träume zu verwirklichen, dann war das ein echt bescheidener Ratschlag. Denn heute wissen wir: Für einen Neuanfang ist es niemals zu spät.

Es gibt ein Meme, welches genau dieses Thema so gut aufgreift, so wertvoll und stark ist, dass es verschwendet wäre, es nicht an dieser Stelle einzubinden:

If you didn’t make it in your 20s, you can make it in your 30s. If you didn’t make it in your 30s, you can make it in your 40s. If you didn’t make it in your 40s, you can make it in your 50s. If you didn’t make it in your 50s, you can make it in your 60s.

Social Media und Selbstverwirklichung

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Social Media verfluchen – im Gegenteil. Ich liebe Plattformen wie TikTok und Instagram – und das nicht, weil ich ein Millennial bin und überwiegend online arbeite, sondern vor allem, weil ich mich dort inspirieren lassen kann. Allerdings musste ich erst lernen, mich inspirieren und weniger deprimieren zu lassen. Denn darin liegt ein gewaltiger Unterschied und die Grenzen verschwimmen so unerwartet schnell, dass wir das meist nicht mitkriegen. Eine gesunde Dosierung und sorgfältige Auswahl der Kanäle, den wir folgen, machen hier die gesunde Mischung.

Es gab vor einigen Jahren eine Zeit, in der das – in meinen Augen schreckliche – Wort „Boss Bitch” im Trend war. Tief in mir wehrte sich schon damals etwas gegen diese Bezeichnung. Nicht, weil ich erfolgreiche Frauen nicht sehen möchte (im Gegenteil: Ich will euch alle sehen!), sondern weil ich den Begriff als etwas primitiv empfand. Und trotzdem wollte ich eine sein. Zu der Zeit war ich ungefähr 23, und: how little did I know.

Manchmal flüstert das Bauchgefühl einfach: „Ich bin nicht da, wo ich sein möchte.”

Diese Zeit löste ein schweres Gefühl in meinem Magen aus. Selbstzweifel und eigene Vorwürfe verschafften sich plötzlich viel zu viel Platz. Von meiner Leichtigkeit aus meinen 20ern war nicht mehr viel übrig. Allerdings war ich auch nicht in der privilegierten Situation, nach dem Studium oder der Ausbildung, auf Selbstfindungsreise zu gehen. Ich musste arbeiten, ich musste Geld verdienen. Und das tat ich, fühlte mich gleichzeitig jedoch faul und erfolglos. Bis ich verstand:

Ich habe mein ganz eigenes Tempo
Nicht jede*r muss das Ziel haben, in jungen Jahren überaus erfolgreich zu sein
Es wird uns niemals glücklich machen, den Weg von anderen zu laufen

Zeit für kindliche Unbekümmertheit

Nachdem ich in den letzten Wochen mit Freundinnen, die alle zwischen 30 und 45 Jahren sind, gesprochen habe, weiß ich, dass dieser Wunsch nach kompromissloser Veränderung öfter präsent ist, als uns bewusst ist –und das in jedem Alter. Unabhängig vom Lebensstil. Während früher noch Unerfahrenheit und Angst eine Rolle spielten, stehen mittlerweile Gewohnheit und das zunehmende Alter bei der Argumentation dagegen vorne. Jedoch sollte nichts davon uns an unserem Glück hindern. Denn besonders mit zunehmendem Alter haben wir einen Vorteil: Lebenserfahrung. Wir haben gelernt, zu verstehen, was wir möchten. Und lassen uns (hoffentlich) nicht mehr so schnell verunsichern. Also können wir auf uns selbst vertrauen, wenn wir uns fragen: Was möchte ich eigentlich? Wenn die Antwort ist: „Hauptsache nicht das, was ich gerade mache“, dann wird es höchste Zeit für den besagten Knopf.

Die Angst vor dem Scheitern

All das, was uns heute begleitet, hat irgendwann mit einem Neuanfang begonnen: die Freundschaften, der Job, die neue Wohnung. Ein Neuanfang bedeutet, sich in ein Abenteuer zu stürzen. Abenteuer sind ziemlich cool, können aber gleichzeitig auch angsteinflößend sein. So ist das auch mit einem Neubeginn. Klar, je älter wir werden, desto mehr Jahre haben wir wahrscheinlich mit dem verbracht, von dem wir uns jetzt lösen möchten. Der unsinnige Druck in allem, was wir tun, erfolgreich sein zu müssen, sollte uns nicht die kindliche Neugierde und Vorfreude nehmen. Wie sagt man so schön: Done is better than perfect. Und am Ende soll es darum gehen, etwas zu tun, was uns erfüllt.

Gemütlichkeit vs. Komfortzone

Wenn ich Seiten folge, die Wandsprüche posten, wie: „Dein größter Feind ist deine Komfortzone!“, dann fühle ich mich im ersten Moment etwas angegriffen, im zweiten Moment jedoch abgeholt: Denn ich bin ein absolut gemütlicher Mensch. Ich L-I-E-B-E Gemütlichkeit, in all ihren Facetten: Wenn ich mich abends auf die Couch zu meinem Hund lege, der den Platz eingerollt vorgewärmt hat, springt mir mein Herz fast aus dem Hals, so glücklich macht es mich. Ruhe und Komfort sind überaus wichtig. Aber fühlt sich der gemütliche Abend auf der Couch nicht erst dann nahezu perfekt an, wenn wir den Tag über glücklich waren und dem nachgegangen sind, was uns Freude bereitet?

Ein weiterer Wandspruch, in dem aber mindestens genauso viel Wahrheit steckt, lautet: „Du wirst nur das bereuen, was du nicht getan hast.“ Wenn wir mit 42 den neuen Schritt nicht wagen, nicht in eine neue Stadt ziehen, die Altlasten nicht hinter uns lassen, den neuen Job nicht annehmen, dann leben wir die Jahre darauf unglücklich weiter. Und das sollte niemals der Preis dafür sein, etwas nicht riskieren zu wollen, weil „wir keine 20 mehr sind”. Wenn wir 42 sind, sind wir 42. Nur können wir entscheiden, ob wir 42 und unglücklich oder 42 und erfüllt sind.

Wenn wir also mit offenen Herzen und vor allem offenen Augen durch die Welt gehen, dann kommt alles mit seiner Zeit. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, Ziele im Visier zu haben, dass wir verlernen, den Weg dorthin zu genießen. Denn manchmal ist der Weg schöner, lehrreicher und wertvoller als das vermeintliche Ziel, was wir uns ausgemalt haben. Und wenn wir mit Mitte 30 planen, auf ein neues Ziel hinzuarbeiten, dann mit jeder Menge Erfahrung und Liebe im Gepäck. Manch einer lernt sich in seinen 20ern kennen, tobt sich in seinen 30ern aus, verliert sich in seinen 40ern und findet in den 50ern die absolute Lebensaufgabe. Ein anderer erlebt dies genau umgekehrt. Ist das nicht schön?

Lasst uns also machen, was unser Herz uns sagt: egal was, egal wann, egal wie. Manchmal brauchen wir 30, 40, 50 oder auch 60 Jahre dafür. Und das ist ganz allein unser Weg. Natürlich haben wir mit zunehmendem Alter auch mehr Verantwortung. Trotzdem kann sich die Veränderung in kleinen und vorsichtigen Schritten entwickeln und an unser Leben anpassen. Hauptsache, wir schlagen die Richtung ein, in die wir gehen möchten.

Wenn wir uns für eins entscheiden, entscheiden wir uns nicht gegen alles andere.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann bin ich ziemlich froh darüber, dass ich mit 24 kaum Verantwortung hatte. Das hätte mir und meiner massiven Unsicherheit nämlich alles andere als gutgetan, weil ich mit 23 jeden kannte – außer mich selbst. Ist es also falsch, mit Anfang zwanzig sein eigenes Imperium zu erschaffen? Nein! Es war nur nicht richtig für mich.

Ein Neuanfang beschränkt sich keineswegs nur auf die Karriere. Trotzdem ist das genau der Lebensbereich, der uns in puncto Neubeginn am meisten Angst einjagt.

Deshalb sollten wir nie vergessen, dass…

… Anna Mary Robinson Moses (Grandma Moses) ihr erstes Bild mit 79 Jahren verkaufte
… Samuel L. Jackson mit 42 Jahren seine erste große Rolle ergattern konnte
… Arianna Huffington mit 55 Jahren die „Huffington Post“ gründete
… Oprah Winfrey erst mit 32 durchstarten konnte
… Astrid Lindgren 37 Jahre alt war, als sie Pippi Langstrumpf schrieb

Wie singt Clueso so schön? „Es ist nicht zur früh, es ist nicht zu spät. Ein guter Plan ist mehr als eine Idee. Werf nicht mehr alles in einen Topf. Veränderung braucht einen klaren Kopf… Neuanfang (Es ist nie zu spät).”

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2 Antworten zu “Alles auf Null: Wer hat Neuanfängen überhaupt eine Altersbegrenzung gegeben?”

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