2020 hat es in sich: Wie ich auf der Suche nach Veränderung fast selbst verloren ging

11. Juni 2020 von in

Irgendwann die Woche klappte ich meinen Laptop zu, legte mein Handy zur Seite und starrte in die Luft. „Ich kann nicht mehr“, schoss es mir durch den Kopf. „Aber du musst“, klagte mein innerer Anspruch. Trotzdem blieb ich liegen und verordnete mir noch in diesem Moment eine digitale Zwangspause.

2020 hat es in sich. Gefühlt zumindest. Denn wenn wir ehrlich sind, hat es natürlich jedes Jahr in sich. Je älter ich werde, je mehr Erwachsenen-Kram ich machen muss, desto anstrengender fühlen sich die Jahre an. Das ist wohl normal, und jede Mutter oder jeder Vater wird mich gerade auslachen und denken: „Warte mal ab, bis du Kinder hast.“ Ja, ich fürchte, das nächste Level im Erwachsenen-Spiel wird nochmal spaßiger, aber auch herausfordernder.

Doch bis dahin kämpfe ich derzeit auf Level 3. Oder 4. Wer weiß das schon genau. Dümpelte ich mit Anfang 20 noch unbedarft durchs Leben, hat sich bei mir in den vergangenen Jahren doch viel getan. Nicht zuletzt durch mein eigenes Wachstum, meine Erfahrungen und eine Verschiebung der Prioritäten, aber auch durch die sozialen Medien und die vielen Gespräche mit Freund*innen. Heute ist mein Gerechtigkeitssinn größer denn je. Feminismus und damit einhergehende Gleichberechtigung sowie die Stärkung der Rolle der Frau liegen mir sehr am Herzen, ich möchte mich für mentale Gesundheit engagieren, im Kampf gegen Rassismus meine Stimme erheben und für das Klima demonstrieren. Und alles am besten auf einmal.

Veränderungen brauchen Zeit, mit Anfang 30 stehe ich nun hier und möchte die Welt verbessern. Mich mit vollem Elan gesellschaftpolitisch engagieren und meine Reichweite und Wirkung nutzen, um meinen Teil beizutragen, dass wir alle ein bisschen friedlicher, aufmerksamer und toleranter zusammenleben. Also fing ich einfach an. Ich schrieb Artikel und ein Buch, ging zu Klimademos, nutzte die sozialen Medien für Shares und sprach vor allem in meinem Umfeld offen und immer wieder Themen wie Feminismus und mentale Gesundheit an. Zettelte Diskussionen an, die Kraft kosteten, und war mir sicher, jeder Schritt zählt.

Und dann kam 2020.

Die Corona-Krise überrollte uns wie ein Tsunami, während die Wochen davor nachrichtentechnisch schon eher mau aussahen. Iran-Konflikte, Femizide, wo man hinsah und allerlei andere Kontroversen. Als Journalistin und per se extrem neugieriger Mensch sauge ich jeden Tag News auf. Ich liebe es, ein wandelndes Lexikon zu sein und mich rabbit-hole-mäßig in Themen einzuarbeiten. Doch bei der Corona-Krise und den täglichen News merkte ich das erste Mal: Es ist zu viel. Ich kann nicht mehr. Das erste Mal seit all den Jahren schaltete ich alle Push-Mitteilungen auf meinem Handy aus und entschied: Erstmal keine News von Medien oder Twitter-Nachrichten mehr.

Pause. Ruhe. Runterkommen. Die innere Unruhe vertreiben.

Ich hatte bemerkt, wie sehr mich der tägliche Strudel aus Nachrichten und Veränderungen gepackt hatte. Doch die Nachrichten gaben mir keine Sicherheit, sondern zogen mich im Strudel runter. Ich drohte an der Welle der News zu ertrinken. Also griff ich den Rettungsring namens Offline-Sein und drückte auf Pause.

Dann erschien mein Buch. Endlich. Offen über mentale Gesundheit zu sprechen, ist wichtig und mir ein großes Anliegen. Also sprach ich, mit vielen, vielen Medien – und nochmal mehr Leser*innen. Ich liebte den Austausch, liebte es, über tiefe Themen zu sprechen und den Dialog über seelische Erkrankungen anzustoßen. Aber ich merkte über die Wochen, auch das geht an die Substanz. „Ich fühle mich ausgeredet“, sagte ich zu einer Freundin, als sie mich fragte, warum ich so wenig von mir erzähle. Dank all der wunderbaren Interviews und der vielen Nachrichten, die ich natürlich schnellstmöglich beantworten wollte, blieb eines auf der Strecke. Meine Energie.

Und bevor ich eine Lösung für mein Dilemma zwischen Dialog und Energie finden konnte, wurde George Floyd in Minneapolis von Polizeibeamten ermordet. Ein Schwarzer Mann, der wieder einmal aufgrund von strukturellem Rassismus getötet wurde. Mein Herz raste, als ich das Augenzeugenvideo sah. Mein Herz raste, als ich die ersten wichtigen Shares auf Instagram teilte. Mein Herz raste, all die Tage danach. Manchmal vor Glück, weil sich endlich was bewegte, manchmal vor Panik, all dem nicht gerecht zu werden.

Das Thema nahm mich ein, ich las so viel, ich konnte, ich wollte wenig falsch machen, dafür noch mehr lernen und meinen Teil dazu beitragen, dass wir nach 2020 wirklich nicht mehr die Frage nach „Gibt es Rassismus in Deutschland“ stellen, sondern dagegen angehen. Endlich. Ihn ausrotten und Schwarzen Frauen wie Männern eine Stimme geben.

Mein Herz raste auch an jenem Tag, als ich in die Luft starrte und bemerkte, ich bin am Limit.
“Aber ich muss doch zur Demo“, dachte ich.
Und beschloss Minuten später, doch nicht zu gehen.

Die Black Lives Matter Demo hatte ich mir fest vorgenommen, da sein, Solidarität zeigen, wie bei der großen Klima-Demonstration mit all den anderen Menschen zeigen, was einem wichtig ist, wofür man steht und welche Werte man vertritt. Und so Veränderung bewirken.

Aber an jenem Samstag signalisierte mir mein Körper und meine Seele, es ist genug. Ich war ausgelaugt. Von all den Wochen der Unsicherheit, von all der Aufregung rund um mein Buch, von der vergangenen Woche voller Rassismus-Learnings und Erschütterung. Meine Anxiety meldete sich, nicht mit dem Vorschlaghammer, aber so, dass ich wusste, es ist Zeit, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen und Rast einzulegen.

Mein schlechtes Gewissen klopfte an, aber nur für wenige Minuten. Denn mit jeder Minute, die ich mir für mich nahm, ausruhte, kam ich endlich runter. Ich schloss Frieden mit meiner Entscheidung gegen die Demo, schickte positive Gedanken zu all den Menschen, die den Weg gewagt hatten und nahm mir vor, mein Engagement auch abseits der Demo weiterzutragen.

In der Ruhe wurde mir klar, wie sehr mich all die Ereignisse in 2020 geprägt, ja viel mehr überwältigt hatten. Wie mir Stück für Stück die Energie abhanden gekommen war, im Kampf für das Gute und das Richtige. Nur hatte ich dabei eines vergessen: mich.

Menschen wie ich, die empathisch sind, denen Veränderungen wichtig sind und die eben nicht ignorant durch die Welt marschieren, nach links und rechts gucken und die Arbeit sehen, die getan werden muss, um eine bessere Welt zu schaffen, neigen auch dazu, sich vollends hineinzustürzen.

Aber zwischen all dem Lernen, dem Diskutieren, dem Sprechen und dem Antreiben von Veränderungen, die auch wir durchleben müssen, dürfen wir uns nicht vergessen. Im Gegenteil. Wir müssen auf uns aufpassen, uns gut um uns kümmern und unsere Ressourcen schonen. Denn nur wem es gut geht, wer die Energie hat, kann am Ende auch Teil der Veränderung sein.

„Burnout durch feministische Diskussion.“ „Ausgebrannt vom zu schnellen Beantworten von Instagram-Nachrichten“ oder „100 News geteilt, plötzlich war es still – Bloggerin braucht Zwangspause“. Als ich an jenem Tag in die Luft starrte, sah ich schon die Schlagzeilen vor meinem inneren Auge. Ich lachte. Nein, soweit sollte es nicht kommen. So wichtig mir all das war, so wichtig war mir am Ende auch meine Gesundheit. Auf der Suche nach Veränderung hatte ich sie fast vergessen und war selbst fast verloren gegangen.

„Es ist okay, wenn ihr heute nicht zur Demo geht, weil ihr nicht die mentale Kraft habt, krank seid, Angst vor Menschmassen oder dem Corona-Virus habt. Das macht eure Arbeit nicht weniger wertvoll“, tippte ich Sekunden später als letzte Amtshandlung an diesem Tag in mein Handy  Es dauerte nur wenige Sekunden, dann trudelten die ersten „Danke“-Nachrichten ein. Ich war nicht allein. Vielen ging es ähnlich. „Danke, ich schaffe es heute mental  nicht, aber ich fühle mich so schlecht dabei.“ „Es ist okay“, schrieb ich zurück.

Veränderung braucht seine Zeit. Wichtig ist, dass wir diese Veränderung wollen und uns dafür einsetzen. Aber dass wir auch akzeptieren, dass all die Veränderungen, die vielen Nachrichten und Entwicklungen anstrengen und uns herausfordern.

Wir dürfen uns nicht vom Druck der sozialen Medien leiten lassen, sondern müssen unseren ganz eigenen, individuellen Weg in Richtung Veränderung finden.

Jeder kann – je nach Kraft, Energie und Zeit – seinen ganz persönlichen Teil dazu beitragen. Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Veränderung geschieht nicht schneller oder besser, wenn wir uns mit aller Vehemenz aufarbeiten. Das birgt nur das Risiko, dass am Ende die Veränderung stoppt, weil wir nicht mehr können.
Es ist nur wichtig, dass wir nicht unsere Augen vor ihr verschließen, sondern der Veränderung einen Platz in unserem Leben, unseren Ansichten und unserem zukünftigen Verhalten einräumen.

Wer sich eine gleichberechtigte Gesellschaft wünscht, muss nicht bei jeder Demo mitlaufen, wenn sich das nicht richtig anfühlt. Dafür klärt derjenige vielleicht all seine Arbeitskolleg*innen immer wieder am Mittagstisch auf. Wer sich gegen Rassismus engagieren will, spricht vielleicht das erste Mal mit seinen Schwarzen Freund*innen darüber und wird im Umfeld laut, sobald rassistische Worte fallen, aber tritt nicht sofort einem Verein gegen Polizeigewalt bei.

Für mich bedeutet das erstmal: Ich will mich vor allem beim Thema struktureller Rassismus weiterbilden, wichtige Informationen auf amazed und in den sozialen Medien teilen, mit Freund*innen über Feminismus diskutieren und trotzdem gut auf mich Acht geben und mich nicht mehr unter Druck setzen. Instagram-Nachrichten von Leser*innen beantworte ich weiterhin mehr als gerne, aber nicht mehr sofort, sondern dann, wenn ich Zeit und Kapazität habe. Und ich halte weiter Abstand, auch wenn der Rest der Welt Corona bereits zu Grabe getragen hat. Weil es mir gut tut.

Und ich auch noch 2021 die Kraft und Energie haben will, mich weiter zu engagieren.
Denn Veränderung braucht Zeit.

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